Die Vielfalt der Schweizer Kirschsorten ist groß. Den Unterschied schmeckt man. 

Die Vielfalt der Schweizer Kirschsorten ist groß. Den Unterschied schmeckt man. 
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Kirschbrände: Made Kirsch great again!

Der Kirsch ist eine Schweizer Ikone par excellence. 
Seine Sortenvielfalt ist legendär, seine Aromen einnehmend. 
Während die Produktion eine Zeit lang auf wackeligen 
Beinen stand, ist er heute qualitativ besser als je zuvor.

Ein weisses Tischtuch, ein schwarzer Spucknapf. Ein konzentrierter Prüfling, ein strenger Prüfer. Zwischen den beiden stehen drei Gläser mit Fruchtbränden. Der Prüfling will anerkannter Verkoster für Destillate werden und ist Österreicher, sein Prüfer ist Schweizer. Bei einem Destillat ist sich der Prüfling ganz sicher, und es schiesst aus ihm heraus: «Kirsch!» Der Prüfer sieht ihn unbeeindruckt an und meint: «Kirsch ist schon richtig, aber Sie wollen professioneller Verkoster werden. Also ist das jetzt eine Langstieler, eine Lauerzer, eine Wild- oder eine Lorbeerkirsche?» Der Prüfling ist sichtlich verunsichert und hat viele der Sorten noch nie gehört. Er tippt auf «Sauerkirsche». Der Prüfer lächelt müde, nickt und lässt es gelten. Wirklich zufrieden ist er mit der Antwort nicht. Dem Prüfling wird eine intensive Beschäftigung mit der Schweizer Kirschvielfalt ans Herz gelegt. Denn eines ist klar: Die Vielfalt der Schweizer Kirschsorten ist unglaublich und die Unterschiede sind Unterschiede, die eben einen gewaltigen Unterschied machen.
Das Prüfungsgespräch fand 2008 statt. Also zu einem Zeitpunkt, als die Kirsch­wasserproduktion in der Schweiz gerade an einem Scheideweg stand. 2007 traf die Politik eine folgenschwere Entscheidung: Die Zölle für Import-Kirsch wurden gesenkt. Deutschen Brennern war es ab diesem Zeitpunkt möglich, günstigen Kirsch in die Schweiz zu liefern, was postwendend zu einem tiefen Preissturz beim Rohstoff, den Schweizer Kirschen, führte. Dies wiederum führte dazu, dass Bauern weniger davon produzierten und Schweizer Destillerien auf ausländische Kirschernten zurückgriffen. 
Die Kirschen wurden in der Schweiz – seit der Liberalisierung des Marktes 1999 – als «Schweizer Kirsch» gebrannt und vermarktet. Dass das nicht wirklich förderlich für die Entwicklung von Preis und Qualität ist, liegt auf der Hand.

Aufgrund des Preisverfalls wurden immer mehr Kirschbäume gefällt. Einige Brenner stemmten sich mit aller Kraft dagegen und gründeten den Verein «Brenzer Kirsch».

Die Bauern mussten aufgrund des Preisverfalls die Produktion einschränken. In einer Papierfabrik kann man die Maschine auf eine geringere Produktionsmenge einstellen, in einer Autofabrik laufen die Bänder dann eben langsamer. Im Obstbau bedeutet das aber: Die Bäume werden gefällt, um Platz für andere Nutzpflanzen zu machen. Der Klang der Motorsäge hat etwas Endgültiges, Unwiderrufliches. Zwischen 1999 und 2008 fielen ihr fast die Hälfte der Kirsch-Hochstämmer zum Opfer. 
Um diese Entwicklung umzukehren, stemmten sich einige Brenner mit aller Kraft dagegen. Von den Destillerien Humbel, Dettling und Röllin wurde der Verein «Brenzer Kirsch» gegründet. Die hochgesteckten Ziele des Vereins sind die Rettung und Erhaltung der Hochstammkulturen sowie die Rückkehr der feinen Destillate aus heimischen Kirschen zu jener Qualität und Grösse, die sie einst hatten. Um dieses Ziel zu erreichen, werden für die Hochstammkirschen (wieder) existenzsichernde, also faire Preise bezahlt und die Destillate einer strengen sensorischen Prüfung unterzogen, bevor sie auf den Markt kommen. 
Um dem ganzen auch einen soliden insti­tutionellen Rahmen zu geben, wurde ge­­meinsam mit «Slow Food» der Förderkreis «Traditioneller Schweizer Brenzerkirsch» ins Leben gerufen. Heute heisst dieses Projekt der «Slow Food – Arche des Geschmacks» nicht mehr Förderkreis, sondern Presidio, und immer noch gilt die «Brenzer Kirsch»-Initiative als Modellprojekt für erfolgreiche Slow-Food-Arbeit. Die «Arche des Geschmacks» ist so etwas wie ein kulinarisch-gastronomisches Ein­satzkommando, dessen Ziel es ist, seltene Tierrassen, alte Pflanzensorten und gefähr­detes kulinarisches Kulturgut zu schützen. 

Pioniere und alte Meister

Sprung ins Jahr 2017: Ziel erreicht, Kurswechsel gelungen. Heute ist die Schweiz wieder eine führende Kirschwassernation und der Schweizer Kirsch hat zu jener Strahlkraft zurückgefunden, die ihn einst auszeichnete. Aus der Brennerei Humbel in Stetten kommen etwa 17 verschiedene Kirschbrände. Lorenz Humbel ist leidenschaftlicher Schnapsbrenner und einer der Bio-Pioniere in der Schweiz. Wenn er über die Vielfalt seiner Kirsch-Des­tillate sprechen soll, gerät er ins Schwärmen und seine Augen leuchten. Stundenlang erzählt er dann über die Unterschiede zwischen dem robusten und rustikalen Seppetoni Kirsch und dem zimtigen und feingliedrigen Ämli Sauerkirsch. 

Moderner Auftritt, der Tradition aber verpflichtet: Saverio und Ivano Friedli-Studer.
© Sebastian Magnani
Moderner Auftritt, der Tradition aber verpflichtet: Saverio und Ivano Friedli-Studer.
Zwei Generationen der Zuger Kirsch-Dynastie: Hans und Gabriel Galliker-Etter.
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Zwei Generationen der Zuger Kirsch-Dynastie: Hans und Gabriel Galliker-Etter.

Arnold Dettling im Schweizer Ort Brunnen hat zwar ebenfalls einen Bio-Kirsch im Sortiment, geht aber grundsätzlich einen etwas anderen Weg. Zum einen wird nur Kirsch gebrannt, zum anderen spielt und experimentiert man bei Dettling gern mit der Lagerung in verschiedenen Fässern und mit Spezialabfüllungen älterer Jahrgänge. Im Moment ist der 1974er zu haben. Ein rundherum weiches und harmonisches Destillat, das enorm von seiner Reifezeit profitiert. Wer Reife und den zarten Geschmack von Fass möchte, kann zwischen Bourbon, Brandy, Rum und Sherry wählen. Besonders intensiv und aromatisch ist dabei der würzige Kirsch aus dem Sherry-Fass. Das befanden übrigens auch die strengen Tester des «World Spirits Award», die den Kirsch mit den höchsten Ehren, also mit «Doppelgold» auszeichneten. 
Die Dritten im Bunde der Brenzer Kirschbrenner sind Hermann und Erika Röllin aus Baar. Zwischen Zug und Zürich betreiben die beiden eine Landwirtschaft, zu der auch ein Sortenrefugium mit alten Kirschsorten wie Notiker, Lauber oder Räbenchriesi gehören. Die Brennerei ist ein Unikat.

Die der Familie Etter wirkt dagegen fast riesig. Immerhin sind die Etter-Brände Ikonen der Schweizer Brenntradition. «Etter Zuger Kirsch vieux et noble» ist ein kristallklarer Fruchtbrand mit ebenso kristallklaren Kirschnoten, abgerundet durch einen eleganten floralen Unterton.
Letztlich sind noch zwei Brennereien zu erwähnen, die durch die herausragende Qualität ihrer Destillate dazu beigetragen haben, dass die Schweiz wieder stolz auf ihre Kirschwasser sein kann. Die Destillerie Studer aus Freiheim und ihr «Studer Kirsch vieux», der an Klarheit, Ausdruck und Sortentypizität kaum zu überbieten ist, und die Destillerie Seetal, die mit ihrer Ausstattung, also Etikett und Flaschenform, auf Esprit und jugendliche Frische setzt, bei den Bränden aber ganz mit den alten Sorten verwurzelt ist. Der «Prüfungskirsch» aus dem Einstieg war übrigens eine Schattenmorelle. Eine Sorte, die für grandiose, wuchtige, exzessive und ausdrucksstarke Destillate sorgt. Viel zu schade, um ein Käsefondue damit zu würzen. Oder gar eine Schwarzwälder Kirschtorte. Aber das ist eine ganz andere Geschichte.

Jürgen Schmücking
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