Christopher Selig beim Abseilen seiner Ramen im roten Eimer.

Christopher Selig beim Abseilen seiner Ramen im roten Eimer.
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Berlins Ramen Revolution: Wer steckt hinter dem roten Eimer?

Christopher Selig verwandelte seine Leidenschaft für die japanische Küche in ein kulinarisches Phänomen: »Food Technique Berlin«. Die abermals geheimsten Ramen der Hauptstadt haben es weit über die Landesgrenzen hinaus geschafft.

Ein Donnerstagabend in der Swinemünder Straße 1 in Berlin: Wenige Meter von der Zionskirche entfernt, hängt ein roter Eimer aus dem zweiten Stock eines Mehrfamilienhauses. Feinschmecker wissen sofort, was Sache ist: Es gibt wieder Ramen. Alles Gute kommt von oben? Das Sprichwort trifft wohl nirgendwo in der Hauptstadt besser zu als hier. Geklingelt wird bei Christopher Selig. Das Fenster öffnet sich und Selig – zerzauste Haare, breites Grinsen – seilt die Bestellung ab: Ein Becher Brühe, ein anderer mit Nudeln, Gemüse und diversen Toppings finden so den Weg zu der wartenden Kundschaft am Boden. Wer einen Abholslot ergattern konnte, hatte Glück. Denn die ehemals geheimsten Ramen in Berlin sind seit ein paar Wochen nicht mehr ganz so geheim. Wie sollte es anders sein, haben Tiktok und Instagram ihre Finger im Spiel. Auf den Social Media Plattformen gehen Videos von Seligs rotem Eimer viral – und das nicht nur in Deutschland. Selbst Freunde aus Singapur sprachen den Wahlberliner auf das Video im Netz an.

Dass der rote Eimer so prominent wird, war alles andere als geplant – im Gegenteil, entstand die Idee aus der Not heraus, als Social Distancing das Gebot der Stunde war. »Ich wollte fremde Menschen nicht durch unseren Hausflur schlurfen lassen und gleichzeitig ist der Eimer eine Hommage an einen ganz bekannten Ramen Shop in Japan, der einen blauen Eimer vor seine Tür hängt, als Zeichen, dass er geöffnet ist«, erklärt Selig im Gespräch mit Falstaff. In Fokuoka sieht man den Eimer zumindest genauso unregelmäßig und dennoch verlässlich wie in Berlin, denn trotz des Hypes steht seine Familie an erster Stelle – gerade ist der 39-Jährige zum zweiten Mal Vater geworden.

»KULINARISCHE INSELBEGABUNG«

Aber wie kommt man als Deutsch-Ungar aus Hannover überhaupt auf die Idee, sich dem japanischen Traditionsgericht anzunehmen? Geschuldet ist das auch seiner Heimatstadt, die regelmäßig Messebesucher aus aller Welt anzieht. So entdeckt Selig schon früh die japanische Küche für sich. Vom Berufswunsch Koch war er jedoch weit entfernt. Zum BWL Studium ging es in die Schweiz, „dort ernährte ich mich hauptsächlich von Nudelsuppen“, scherzt er. Die Aromen und die Möglichkeit, einfache Gerichte durch einzelne Komponenten auf ein neues Niveau zu heben, wecken schließlich seine Leidenschaft für Kulinarik – und machen aus ihm einen leidenschaftlichen Hobbykoch.

Hauptberuflich zieht es ihn in die verschiedensten Berliner Start-ups. Zuletzt zum führenden Anbieter von kulinarisch-kulturellen Stadtführungen »Eat the world«. Dort merkte er, dass sich seine Arbeit und seine Leidenschaft perfekt miteinander kombinieren lassen. »Im Studium hatte ich noch fest den Plan, nach Japan überzusiedeln, dort einen Bürojob zu haben und mich dort durch die Essenslandschaft durchzufuttern« – soweit kam es zum Glück aller Ramenliebhaber nicht. Parallel zur Planung von Kulinarik-Touren, fing er im Herbst 2021 an, seine Ramen aus dem roten Eimer zu verkaufen. Seit 2022 ist seine »kulinarische Inselbegabung«, wie er es nennt, sein Vollzeitjob.

Die Grundsteine dafür legte Selig bereits 2006: »Bei Ramen wird gerne gescherzt, dass die ersten Versuche ganz furchtbar schmecken, so war es auch, als ich mich damals an meine erste eigene Brühe rangetraut habe«, erzählt er. Sie schmeckte so scheußlich, dass er sich lieber weiter seinem Studium widmete und erst 10 Jahre später einen neuen Versuch startete. 2019 dann der erste Erfolg: Seine damals vierjährige Tochter bekam ganz große Augen, als sie eine seiner experimentellen Brühen kostete. Darauf baute Selig auf. Sein gesammeltes Wissen und den Weg zur perfekten Nudelsuppe teilt er parallel unter  »Food Technique Berlin« auf Instagram – unter diesem Namen arbeitet er heute. »2021 dachte ich dann: Das kann ich anderen vorsetzten und habe testweise den Verkauf gestartet.«

EINE WAHRE GERUCHSBELÄSTIGUNG

In Deutschland einfach so Gerichte aus der eigenen Küche verkaufen? Da klingeln bei jedem Ordnungsamt doch sämtliche Alarmglocken!? Christopher lacht. Neben dem Eimer hat er der Pandemie auch die relativ einfache Umsetzung seiner Idee zu verdanken. Der gewerbliche Verkauf von Lebensmitteln von zu Hause aus ist natürlich nur unter besonderen Bedingungen erlaubt. Während Corona hat das Start-up »HomeMeal« jedoch ein Hygienekonzept mit den Berliner Behörden entwickelt, die Christophers Plan schneller Wirklichkeit werden ließ. Ein zweiter Kühlschrank und ein zusätzliches Regal mussten her, um die gewerblichen von den privaten Lebensmitteln der Familie zu trennen. »Und dann habe ich, zum Leidwesen meiner Frau und Nachbarn, angefangen zu kochen«, erinnert er sich. Duftet das fertige Gericht wunderbar, kann der Prozess, des stundenlangen Einkochens von Schweine- oder Hühnerknochen zu einer wahren Geruchsbelästigung werden. Zwar gab es für die Nachbarn Ramen als Entschädigung, zur Wahrung des Hausfriedens entschied sich Christopher jedoch die Fertigung in eine Gewerbeküche auszulagern und die One-Man-Show zu beenden. Mit einem kleinen Team kümmert er sich dort auch um den Versand. Denn die gute Nachricht für alle Nicht-Berliner: Christophers Ramen Kits werden deutschland- und österreichweit geliefert. Verkauft wird trotzdem weiter am Zionskirchplatz – „die Lage in Berlin-Mitte ist einfach unschlagbar und ich kann so direktes Feedback von meinen Kunden bekommen.“

Das Ramen Kit wird erst zu Hause zum fertigen Gericht zusammengestellt.
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Das Ramen Kit wird erst zu Hause zum fertigen Gericht zusammengestellt.

Anders als erwartet – und zur Freude aller Hausbewohner – klingeln die seit den jüngsten Berichterstattungen nicht Sturm. Und überhaupt »was mich total erfüllt ist, wenn ich sehe, dass Kunden wegen des guten Geschmacks der Ramen kommen und nicht nur wegen des Eimers«, sagt Selig. Damit das so bleibt, tüftelt er ständig an neuen Rezepten und Varianten.

 

»MEINE ANALOGIE DAZU IST: ALS WÜRDE JEDES ITALIENISCHE RESTAURANT NUR SALAMI-PIZZA ANBIETEN«

Seine Mission: Die Vielfalt von Ramen aufzeigen und neue Varianten, die man außerhalb Japans eher selten zum Probieren bekommt, anbieten. Statt der bekanntesten Variante, mit einer kräftigen »Tonkotsu« Schweine-Brühe, setzt Christopher eher auf leichte Brühen. »Meine Analogie dazu ist: als würde jedes italienische Restaurant nur Salami-Pizza anbieten«, scherzt er. Deshalb experimentiert er mit Doppelbrühen, Fleischbrühen mit Meeresfrüchten, und verschieden geschnittenen Zutaten, sodass sich das Gericht während des Essensprozesses weiterentwickeln kann. Ein einfaches Beispiel: Selig schneidet die Frühlingszwiebeln in feine längliche Streifen, so bleiben sie zu Beginn zwischen den Nudeln hängen. Gemüse hingegen, wird so klein geschnitten, dass es die längste Zeit in der Brühe schwimmt. Das Prinzip findet man oft in der japanischen Küche und hat den 39-Jährigen erst kürzlich wieder inspiriert: Aus den Resten der meist übrigbleibenden Brühe, wird einfach ein neues Gericht kreiert. Reis und rohen Fisch dazu und man hat ein völlig neues Geschmackserlebnis. Ebenfalls eine Idee aus Japan: der sogenannte »mid-meal-flavour-change«, bei dem auf Hinweis des Kochs, nach der Hälfte des Essens, ein neues Gewürz hinzugefügt wird. Ein Konzept, das sich für Selig anbietet, schließlich kochen seine Kunden ihr Gericht nach Anleitung erst zu Hause frisch zusammen.

Wie sollte es anders sein, träumt der Ramenkoch von einem eigenen Ramen Laden. Wie sich das anfühlt, testet er im Herbst aber erst einmal aus. Zusammen mit befreundeten Ramenköchen aus Japan, wird es in Berlin eine Art Ramen-Pop-Up geben. Ein wichtiger Schritt für Selig, der so auch der Diskussion um kulturelle Aneignung entgegenwirken will. Auch wenn seine Kunden teils widersprechen: Es war nie sein Ziel, die besten Ramen zu machen, „sondern einfach eine gute, die man außerhalb Japans selten so findet.“ Deshalb bleibt er bei seiner Inselbegabung Ramen und seilt von seiner persönlichen Insel weiter den roten Eimer ab.


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Anna Wender
Anna Wender
Redakteurin
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