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Viva la Käserevolution: Warum die Käsetheke so viel Bedeutung für das Bürgertum hat

Der Titel verwirrt Sie? Doch er ist angebracht, denn die Käsetheke bei »Meinl am Graben« hat vor vierzig Jahren – und auch schon davor – das Verstehen von Käse in Österreich massiv befördert und verändert. Diese Käsetheke, wenn auch heute nur noch Vergnügen, war eine revolutionäre Institution.

Das Wichtigste zuerst: Die ­Käsetheke ist noch da und man kann dort auch weiterhin vor dem Kauf ein Stückchen kosten, wenn man bei der Sortenwahl unentschlossen ist. Ansonsten ist im Meinl am Graben ›kein Stein auf dem anderen ­geblieben‹, wie Geschäftsführer Herbert ­Vlasaty beim gestrigen Pre-Opening sagte.« So schrieb die Tageszeitung »Kurier«, als der frisch renovierte Meinl am Graben vor zwei Jahren seine Türen wieder ­öffnete, um demselben Bürgertum, das ihm seit Jahren zu Recht die Treue hält, wieder jene Waren feilzubieten, von denen man manche auch anderswo bekommt – aber nicht in dieser Weltstadtatmosphäre.

Die Käsetheke gleich zu Beginn des Artikels? Und als »das Wichtigste« tituliert? In ­einem Markt, der auch eine großartige Fisch-, Fleisch-, Gebäck- oder Gemüse­abteilung hat. Und von der Weintheke mal ganz zu schweigen. Käse? Gleich an erster Stelle? Ja! Weil diese Käsetheke lange, lange Jahre die erste Station für jene Wiener war, die Käse aus jenen Ländern essen wollten, wo man weiß, wie man Käse macht. Und da zählte Österreich wahrlich nicht dazu. Diese Käsetheke trug das Zündfeuer für die Revolution der kulinarischen Erweiterung Österreichs. Diese Käsetheke ist mit und führend dafür verantwortlich, dass sich die Wiener und Österreicher nicht länger bieten ließen, mit Durchschnitt abgespeist zu werden. Und es ist nicht klar, ob man bei Meinl weiß, was Meinl damals geleistet hat: eine Rebellion!

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Aber wie kann das möglich gewesen sein? Wie kann etwas, das damals in anderen Ländern in Feinkostläden und auch in Supermärkten normal war, wie kann eine reichhaltige Auswahl guter Käsesorten aus den führenden Käseländern der Welt, aus Frankreich, Italien, Spanien, England, der Schweiz oder Holland wie auch aus Nischen, aus käsefreundlichen Ländern wie Belgien, Griechenland, auch Ungarn oder Irland, wie kann so eine kaufmännische Installation namens Käsetheke revolutionäre Kraft gehabt haben – überhaupt als Revolution beschrieben werden? Die Antwort ist verblüffend einfach. Verblüffend für heute lebende Generationen. Einfach vor allem für jene wie mich, die damals, vor vierzig Jahren, in Wien gelebt haben. Die Antwort heißt: Es gab nichts anderes als diese Käsetheke. Sie war das Tor zu der uns im Land versperrten kulinarischen Welt. Wenn man einen guten französischen Käse kaufen, etwa einen Époisses oder ­einen Fourme d’Ambert mit heimnehmen und dort genüsslich essen wollte, so gab es außer einer Naschmarktbude und einem Traiteur namens Wild keine einzige ­Bezugsquelle für gute ausländische Käse. Keine! Nada! Nix!

Wie kann das wiederum möglich gewesen sein? Nun, das lag daran, dass in ­Österreich Monopolisten bestimmten, was der Bürger essen darf – guter Käse zählte nicht dazu. Und der Staat, die Monopolisten, bestimmte auch, dass einfache Menschen, die, die nichts anderes kannten, als die vier bis sechs Käse, die es in Österreich zu kaufen gab, nicht auf die Idee kommen sollten, es gäbe anderswo Besseres. Kurios: Gute, österreichische Bergkäse aus ­Vorarlberg waren unter dem Erlaubten kaum darunter. Die wurden dort verkauft, wo man verstand, wie gut die sind. Im Ländle selber, wiewohl es Käsereien verboten war, an Private oder Spaziergänger zu verkaufen, oder im Ausland.

Neue Ära. Seit der Renovierung vor zwei Jahren schaut der Meinl am Graben zwar etwas anders aus, das Konzept ist aber zum Glück gleich geblieben.
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Neue Ära. Seit der Renovierung vor zwei Jahren schaut der Meinl am Graben zwar etwas anders aus, das Konzept ist aber zum Glück gleich geblieben.

Der österreichische Zoll, und deswegen trauert dieser Finanzbehörde auch kein Mensch im Land auch nur eine Minute nach, stoppte vor allem Autos an der ­Einreisegrenze zu Italien oder der Schweiz, die verdächtig schienen, kulinarisch ­Bedeutendes ins Land zu holen – und das waren vor allem Autos aus dem Wiener, Grazer und Linzer Bürgertum. Der Autor dieser Zeilen wurde Augen­zeuge, wie man in Arnoldstein von ­Menschen das mit ­Importverbot belegte Meersalz beschlagnahmte, dazu auch ­ganze Taleggio-Laibe, und beides vor den Augen der »Schmuggler« vernichtete. Nicht ohne Hohn.

Spätestens jetzt wird manch jüngerer Leserin und manch jüngerem Leser hier die Kinnlade offen stehen. War ­Österreich wirklich ein derart absurdes Land? Ja, war es! Ein Land, in dem Rohmilchkäse verboten waren und Käse anderer Länder generell unter Generalverdacht standen, die Konsumenten ermorden zu wollen. Das alles klingt heute nach Witz, war aber die absurde Realität, die mehr an die DDR erinnerte als an ein demokratisch-marktwirtschaftliches Land.

An der Käsetheke bei Meinl am Graben trafen sich die Revolutionäre. Oft freitagabends, meistens aber samstagvormittags (der Meinl musste damals, wie alle, mittags schließen), wenn bei Meinl ohnehin die Hölle los war und sich die Konsumenten auf die Zehen stiegen. Wir trafen uns an der Käsetheke, um das verständnisvolle Personal um den Verstand zu bringen, weil wir von jedem Käse kosten wollten. Aber wir kauften auch – manchmal Käse um mehr als 500 Schilling, was damals ein Riesengeld für Käse war. Daheim packten wir die Käse auf ein großes Brett, wer eine hatte, tat die Käseglocke drüber, wer nicht, bekam die Wohnung vollgestunken. Und dieser Gestank der Käse war wie eine ­Auszeichnung, wie ein Orden des Andersseins, eine olfaktorische Bestätigung, dass man zu jener Art Konsument zählte, der dem Besonderen frönt. Und von solchen Menschen gab es zunehmend mehr, weil sich der Ruf der Käsetheke durch Mundpropaganda in unserer Schicht verstreute.

Doch was bedeutet »unsere Schicht« nun wieder? Unsere Schicht bedeutet jene jungen Menschen, wir waren damals alle Anfang zwanzig (und wir waren nicht ­wenige), die in den neuen Medien und in Werbung und Kultur arbeiteten; jene Wirtschaftszweige, die noch zehn Jahre davor nicht als Treiber einer Wirtschaft erkannt wurden, jene Wirtschaftszweige, die Wien erst jetzt zur Weltstadt machten. Vor uns war Wien grau, dumpf und grässlich. Mit uns, und dank des Meinls am Graben, ­änderte sich das. Und auch schnell.

Natürlich half es, dass der erste Wiener Bürgermeister mit Verstand, Helmut Zilk, in Rufweite des Meinls wohnte und verlässlich mit uns an der Käsetheke stand (»no, Burschen und Mädels, wos kauf ma heute?«). Und: Es herrschte ein egalitäres Prinzip. War der Meinl am Graben lange Jahre ein Hort des konservativen Bürgertums, so wurde er an der Käsetheke auch Hort jener Menschen aus sozialdemokratischem »­Miljöh«, die sich kulinarisch verbessern wollten. Anders gesagt: Ich Prolo aus dem Gemeindebau betrachtete die Käsetheke als eine Heimat, die ich ein- bis zweimal in der Woche ansteuern musste. Denn hier war die Metropole, die Wien heute ist, in Ansätzen sichtbar.  Und uns allen war es wichtig, in einer Metropole zu leben.

Käse Know-how. Auch heute ist die Käsetheke im Meinl der perfekte Ort, um sich in kulinarischen Fragen weiterzubil-den. Hier weiss man nicht nur über die Käse der Welt Bescheid.
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Käse Know-how. Auch heute ist die Käsetheke im Meinl der perfekte Ort, um sich in kulinarischen Fragen weiterzubil-den. Hier weiss man nicht nur über die Käse der Welt Bescheid.

Es war der damalige Geschäftsführer des Meinls am Graben, Kommerzialrat (im ­titelsüchtigen Wien damals ein wichtiger Titel) Helmut Touzimsky, ein beim Kennenlernen arroganter und auch maulheldiger Herr (aber eine Größe im Auskennen), der uns lieb gewann, weil er wusste, dass wir ­erkannten, was er und die Meinls hier ­taten: Wien die kulinarische Welt öffnen zu wollen. Und es war jener Helmut ­Touzimsky, der uns mit dann väterlichem Kopfschütteln erklärte, dass Bordeaux und Brunello nicht unbedingt zu Käse passen, dass wir vielmehr einen Süßwein aus dem Burgenland oder der Wachau oder Champagner dazu trinken sollten – denn gemeinsam mit der Vinothek St. Stephan war der Meinl am Graben damals auch der einzige Ort mit ­einer adäquaten Weinauswahl in der Stadt.

Und die Käsetheke heute? Nun: Sie hat sich gefühlt verdoppelt. Das auch, weil mit dem Beitritt Österreichs zur Europäischen Union jene Monopole fielen, die den ­Bürgern des Landes sagen wollten, was sie zu kaufen hätten, dass sie nur Käse aus ­Österreich kaufen dürfen. Der Meinl am Graben, so erzählte es mir Touzimsky, ­hatte all die Jahre davor immer Sonder­genehmigungen, Käse aus der Welt zu ­importieren – ausgenommen Rohmilchkäse. Und diese Genehmigungen zu bekommen war nicht unbedingt leicht, doch gab es schon vor fünfzig Jahren Stimmen auch im konservativen Bürgertum, die einen Ort verlangten, wo es wenigstens ein bisschen mehr Auswahl gab. Deswegen, Bürger der Stadt, Bürger Österreichs und Bürger ­anderer Länder: Versammelt euch an ­dieser prächtigen Käsetheke, die weltweit wohl die einzige Käsetheke ist, die sich für eine kulinarische Revolution groß mitverantwortlich zeichnet! Ein Ort mit Geschichte! Ein Ort der Geschichte!


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© StockFood / Ramanauskiene, Justina

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Manfred Klimek
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