Das Spiel hat zentrale soziale Funktionen: Es ist ein Katalysator des intensiven Kennenlernens. Wie geschaffen also für die gemeinsame Zeit an den Feiertagen.

Das Spiel hat zentrale soziale Funktionen: Es ist ein Katalysator des intensiven Kennenlernens. Wie geschaffen also für die gemeinsame Zeit an den Feiertagen.
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Genuss und Spiel: Warum kulinarische Gesellschaftsspiele ein Comeback feiern

Kulinarik und Gesellschaftsspiel sind seit jeher kongeniale Partner. Das hat gute Gründe: Bei beiden geht es ums gemeinsame Genießen. Eine Reise durch die Spielwelt mit ihren opulent gedeckten Tischen – ergänzt um Tipps für die Feiertage mit der Familie und im Freundeskreis.

Stinktier. Man hatte auf Schokolade oder auf Orangenschale gehofft, aber der neue Whisky schmeckt ganz klar nach Stinktier. Das geht aus den Verkostungsnotizen eindeutig hervor: »Ich glaube, ich kann dieses Aroma nicht einmal mit einer ganzen Flasche Tomatensaft aus meinem Geschmacksgedächtnis löschen«, steht da unbarmherzig zu lesen. Als Inhaberin einer aufstrebenden schottischen Distillerie hat man es nicht einfach.

Auch wenn das Ganze nur ein Brettspiel ist, bei dem die Spieler die komplexen Abläufe einer Brennerei realitätsgetreu simulieren – das Kennerspiel »Distilled« aus dem Hause Giant Roc kam dieses Jahr auf den Markt –, so packt einen doch der Ehrgeiz, einen wirklich erlesenen Tropfen zu kre­ieren. Gemeine Tasting Notes hin oder her, das ist ein gelungener Abend!

Denn kulinarischer Genuss und Spiel sind eine großartige Kombination. Dass die Spielebranche, nicht erst seit Corona ein weltweites Milliardengeschäft, die Kulinarik als Thema für sich entdeckt hat, kommt nicht von Ungefähr. Beide sind seit jeher eng mit einander verbunden.

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Bei den alten Griechen war es nicht umsonst der Gott Dionysos, Gott der Feste, des Weinbaus und der Ekstase, der sich auch dem (Glücks-)Spiel verschrieben hatte. (Dass er sich diese Rolle mit dem Götterboten Hermes teilen musste, ist eine andere Geschichte.) Die Römer wiederum erkannten sogar die politische Dimension des kulinarischen und spielerischen Genusses: Sie stehen bis heute für »Panem et circenses«, für »Brot und Spiele« also, bei denen das Volk Popcorn, pardon: Panem essend sich an martialischen Kämpfen in der Arena erfreute. Später musste man im Alten Rom das Würfelspiel um Geldeinsätze gar (erfolglos) verbieten, weil es in den Gaststätten überhand nahm und ehrbare Bürger in den Ruin trieb. Und im England Top 3 Schaumweine aus England des 17. Jahrhunderts gab es in einschlägigen Lokalen menschliche »Würfelschlucker«, die die verbotenen Spielgeräte verschwinden lassen mussten, wenn die Polizei zu unerwarteten Kontrollen antrat. Das geheime Pokerspiel im Hinterzimmer ist also keine Erfindung der jüngeren Vergangenheit.

Von derartigem ist man heute – zum Glück – weit entfernt. Wie überhaupt sich moderne Brettspiele längst von dem emanzipiert haben, was viele (von »Uno« bis »Mensch ärgere Dich nicht«) aus ihrer Kindheit kennen. Moderne Brettspiele bieten viel mehr. Sie können stundenlange Abenteuer sein, ausgefuchste Strategiekracher mit unterschiedlichsten Themen, abstrakte Knobeleien, schnelle, quirlige Partyrunden voll Sprachwitz. Längst wird nicht nur kompetitiv gegeneinander gespielt, sondern auch kooperativ »gegen das Spiel«. Kampagnen erzählen eine Geschichte, die sich über mehrere Partien hinweg entwickeln kann, Legacy-Spiele verändern das Material von Partie zu Partie dauerhaft und bieten ein komplett individualisiertes Erlebnis.

Der griechische Gott Dionysos war nicht nur Gott des Weins und der Extase, auch beim (Glücks-)Spiel mischte er mit.
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Der griechische Gott Dionysos war nicht nur Gott des Weins und der Extase, auch beim (Glücks-)Spiel mischte er mit.

Jenseits von Raum und Zeit

Wir erkennen schon die erste Parallele zur Kulinarik: Hier ist – wortwörtlich – Genuss im Spiel. In beiden Fällen wird der Tisch gedeckt, in beiden Fällen spielen Optik und Haptik eine wichtige Rolle. Und auch die Opulenz! Ein gut gedeckter Spieltisch ist eine Augenweide. Das Auge isst nicht nur mit, es spielt auch mit. Spielefans sprechen in ihren Bewertungen daher auch von der »Tischpräsenz« eines Spiels. Auch Tischmanieren gilt es zu lernen, in diesem Fall sind es die Regeln und das gesittete Mit­einander beim Spiel.

Wer sich auf ein komplexes Spiel wirklich einlässt, wird mit dem Erlebnis der Immersion belohnt. Man vergisst Zeit, Raum und die nächste Steuererklärung und taucht ein ins simulierte Geschehen. Ein Plättchen umdrehen, das fühlt sich dann nach echter Entdeckung an; eine Karte mit Tasting Notes lässt den Spieler echten Distiller-Frust erleben; eine Begegnung auf einer Abenteuerkarte wirft moralische ­Fragen auf, die man in diesem Moment nicht anders als ernst nehmen kann.

In der Coronapandemie schnellte der Umsatz der Spieleverlage zweistellig nach oben. Wer nicht reisen konnte, blieb zu Hause und machte sich am Tisch auf ins Abenteuer. Die Faszination ist geblieben. Die weltgrößte Messe für Gesellschaftsspiele, die »Spiel« in Essen, verbuchte 2023 ein Rekordjahr: Knapp 193.000 Besucher, 935 Aussteller, mehr als 1750 Neuerscheinungen.

»Distilled« von Giant Roc: Ein bis fünf Spieler (ab 14 Jahren) versuchen sich an ihrer eigenen Brennerei.
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»Distilled« von Giant Roc: Ein bis fünf Spieler (ab 14 Jahren) versuchen sich an ihrer eigenen Brennerei.

Earl of Sandwich

Das Spielen ist (wieder) salonfähig. Gerade in Österreich war es das in der kulinarischen Welt lange Zeit sowieso: Die gepflegte Tarockrunde hatte ihren festen Platz im echten Wiener Kaffeehaus. Und am Stammtisch im Wirtshaus lagen die abgegriffenen Schnapskarten immer griffbereit. Im Casino verbinden sich Spiel und Kulinarik ebenfalls. Dass das Sandwich einst entstanden sein soll, weil der spielverliebte gleichnamige John Montagu, 4th Earl of Sandwich, stundenlang seinem Lieblingsspiel »Cribbage« verfiel, mag eine Legende sein – aber keine schlechte: Weil er die Partien nicht unterbrechen wollte, um zu essen, reichten ihm die Diener mit Rindfleisch gefüllte, geröstete Weißbrotscheiben.

Da ist es kein Wunder, dass sich auch die Themenwelten moderner Spiele besonders gern in der Küche und angrenzenden Gefilden finden. Von der komplexen Verwaltung des eigenen Weinguts bei »Viticulture« über hirnverzwirbelnde Anbau- und Verkaufslogistik bei »Coffee Traders« bis zum Spirituosencrafting bei »Distilled« oder der hohen Kunst des Bierbrauens bei »Bierpioniere«. Klassiker wie »Kitchen Rush« simulieren die turbulente Arbeitswelt der Gastronomie, bei »Beer and Bread« konkurriert man mit komplexen Kreationen.

Gute Tradition: Am Stammtisch lag in Österreich einst stets ein Päckchen Schnapskarten bereit.
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Gute Tradition: Am Stammtisch lag in Österreich einst stets ein Päckchen Schnapskarten bereit.

Der Spielende Mensch

Was aber macht die Faszination am Spiel aus? Sie treibt den Menschen seit jeher um und an. Er ist, sagt die Wissenschaft, ein »Homo ludens«, ein »spielender Mensch«, der von Kindheit an seine kulturellen Fähigkeiten über das Spiel entwickelt. Denn nichts interessiert Menschen so wie andere Menschen – und das Spiel ist (wie ein gesetztes Dinner) ein Katalysator des intensiven Kennenlernens.

Gleichzeitig wohnt ihm etwas zutiefst Heilsames inne, selbst wenn es gegeneinander geht: Das Spiel eröffnet einen geschützten, in sich sinnhaft strukturierten Raum, in dem die Regeln für alle klar definiert sind. Das reduziert die Komplexität der Welt auf ein handhabbares Maß. Während wir im Alltag oft von Nachrichten überflutet werden, denen wir machtlos gegenüberstehen, haben wir am Spieltisch immer Optionen und können selbst aktiv werden. Ein Spiel löst keine Probleme, aber es bietet Probleme, die wir lösen können. Selbst den Klimawandel können wir in den Griff bekommen – und falls es bei der Partie doch nicht klappt, versuchen wir es einfach noch einmal. Diese Handlungsfähigkeit fühlt sich gut an und macht uns widerstandsfähiger gegenüber den Herausforderungen des Alltags. Im Spiel probieren wir gefahrlos aus, wie sich Risiko anfühlt, wie Scheitern geht und wie Erfolg schmeckt. Und wir nehmen unsere Erfahrungen mit in die Welt jenseits des Spieltischs.

Jedes Spiel sei »wie ein kleines Leben«, hat der große, unlängst verstorbene Spieleautor Klaus Teuber gern gesagt. Sein Klassiker »Catan«, eine aus sechseckigen Plättchen immer wieder neu zusammensetzbare Insel, verkaufte sich mehr als 30 Millionen Mal. Teuber wusste: Man öffnet eine Schachtel und findet darin eine Welt. Es kann eine kleine Welt sein oder eine große, aber in fast jeder gibt es Gelegenheit, sich selbst und andere neu kennenzulernen. Das geht sogar solo, also allein gegen eine Spielmechanik – quasi zeitversetztes Kräftemessen Spieler gegen Autor.

Gefahrlos ein anderer sein

Es ist mittlerweile fast Standard, dass zumindest komplexe Spiele auch eine ausgefeilte Eine-Person-Variante bieten. So kann man sich selbst den Spieltisch schön decken und entschleunigt eine Partie genießen, ohne dass der Nächste in der Runde ungeduldig mit den Fingern trommelt. Alleine spielen – da runzelt mancher seltsamerweise die Stirn. (Am Smartphone ist das üblich, aber bei Tisch?) Da sind wir wieder bei der Kulinarik: Warum sollte man im Stehen freudlos ein pappiges Brötchen verzehren, nur weil man allein speist? Schließlich kann man sich auch allein in sehr guter Gesellschaft befinden – und sollte es sich dann auch wert sein, sich anständig zu behandeln und nicht mit Fast Food abzuspeisen.

Ein gutes Spiel setzt sich aus vielen Elementen zusammen und kann ehrbare wie zweifelhafte Charaktereigenschaften kitzeln: Besitzgier, Neid, Vermeidungsstrategien – aber auch soziale Sehnsüchte, Kreativität und Entwicklungsdrang. Spiele leben davon, dass Konjunktive oft interessanter sind als Indikative. Das »Was wäre, wenn« ist dem »So tun, als ob« eng verwandt, das Kinder stundenlang beschäftigen kann und das Erwachsenen oft leider verloren gegangen ist. Einfach mal gefahrlos jemand Anderer sein, ein Gangsterboss, eine Heilerin, ein verschrobener Ingenieur oder ein konfuser Koch: Dagegen ist das »So isses« des Alltags chancenlos. Und das Gesellschaftsspiel ist wie Literatur, Film oder Theater ein Kulturgut – aber eines, das man nicht passiv konsumiert, sondern das sich erst im eigenen Tun verwirklicht und den Radius des eigenen Denkens immens erweitern kann.

Das richtige Spiel für eine Runde zu finden, ist dabei wie die Menüfolge eines guten Essens keine einfache Angelegenheit. Vielleicht sollte man daher einfach das tun, was man auch in der Gastronomie tun würde: Man lässt sich vor Ort beraten. Nicht nur Brettspiele boomen, sondern auch Spielevents und Spielecafés.

Das Auge spielt mit: »My Lil‘ Everdell« (die Kinderspiel-Adaption von »Everdell«) ist spielmechanisch interessant, bereitet aber auch optisch große Freude.
 © Maren Hoffmann
Das Auge spielt mit: »My Lil‘ Everdell« (die Kinderspiel-Adaption von »Everdell«) ist spielmechanisch interessant, bereitet aber auch optisch große Freude.

Spielecafes Boomen

In Wien etwa die »Paradice Board Game Bar«, in Hamburg das »Würfel und Zucker«, in Frankfurt am Main das jüngst eröffnete »Playce«. Hier beraten Gamegurus die Spielewilligen und helfen ihnen beim Einstieg. Möbelgigant Ikea hat in Wien und Hamburg mehrmals zu Boardgame Nights geladen, die regen Anklang fanden. Büchereien und Institutionen wie der Verein »Ludovico« in Graz betreiben eigene Ludotheken, in denen man Spiele ausleihen kann, die Wienextra-Spielebox hält mehr als 8000 Spiele zum Ausprobieren bereit. Gutbürgerliche Spielehotels wie das »Tschitscher« in Osttirol, das Hotel »Sonnenschein« in Ostholstein oder der »Josefshof« in Graach an der Mosel halten eigene Ludotheken vor.

Vielleicht aber will man der Leidenschaft lieber eine opulente Bühne im eigenen Zuhause bieten. Dann hat man ein Problem, wenn die Mahlzeit ansteht und die Partie auf dem Esstisch noch nicht beendet ist. Dafür aber haben findige Spielenerds eine Lösung gefunden: Möbelbauer wie das griechische Brüderpaar Thanis und Paschalis Milios mit ihrer Firma Rathskellers oder die deutsche Tischlerei Collin haben sich auf Luxustische mit eingebautem »Keller« spezialisiert. In der tieferen Ebene, wie beim Billardtisch mit Samt oder Neopren ausgeschlagen und von LED-Leisten beleuchtet, harrt das Spiel seiner Fortsetzung. Darüber können mit wenigen Handgriffen Einlegeplatten eingepasst werden, die den Spiel- zum Esstisch machen.

Das obere Ende der Luxusskala markiert derzeit der 2,30 mal 1,25 Meter große »Altar« von Rathskellers, der mit 16.000 Euro zu Buche schlägt. Dafür gibt es dann auch Getränkehalter, die man ringsum einhängen kann, sodass nichts auf die Spielfläche tropft. Alternativ wählt man einen Tisch mit eingebauter Drainage, wie ihn die britische Firma Geeknson anbietet: Auf der Esstischfläche verschütteter Wein tritt diskret unten an einem der Tischbeine aus. Dyonisos hätte seine Freude.

Die Spieltische der Firma Rathskellers sind eine Investition. Dafür darf das Spiel stehen bleiben, während auf einer Ebene darüber auf stilvollen Einlegeplatten gegessen werden kann.
 © Rathskellers
Die Spieltische der Firma Rathskellers sind eine Investition. Dafür darf das Spiel stehen bleiben, während auf einer Ebene darüber auf stilvollen Einlegeplatten gegessen werden kann.

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Erschienen in
Falstaff Nr. 10/2023

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Maren Hoffmann
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