Ángel León verwendet in seinem Lokal fast ausschließlich Produkte aus dem Meer und zaubert daraus feine »natürliche« Gerichte.

Ángel León verwendet in seinem Lokal fast ausschließlich Produkte aus dem Meer und zaubert daraus feine »natürliche« Gerichte.
© Álvaro Fernández-Prieto

Ángel León und das »Aponiente«: Maritime Avantgarde

Würste und Schinken aus Fisch, Eis und Saucen aus Plankton, selbst gezüchtete Minishrimps, Nudeln aus Fischcollagen – das ist nur ein kleiner Ausschnitt aus dem nicht alltäglichen Repertoire von Küchenchef Ángel León, der im Restaurant »Aponiente« im spanischen Cadíz großartige Küche zelebriert. Dafür wurde er bereits 2017 mit drei Michelin-Sternen ausgezeichnet, im vergangenen Jahr kam noch der grüne Stern hinzu. Von »50 Best« wurde das »Aponiente« zudem mit dem Sonderpreis für Nachhaltigkeit geehrt.

Zwei Kellner kommen mit einem riesigen Wagen voll Würsten an den Tisch gerollt. Mortadella, Chorizo, Salami und andere Würste baumeln vom Haken, am Tisch prangt ein großer Schinken. Meine Frau, die kein Fleisch isst, wirkt merklich angespannt. Was soll das? Doch ich kann sie beruhigen, der Schein trügt. Die Mortadella ist vom Wolfsbarsch, der Schinken vom roten Thunfischbauch, die Wurst vom gefleckten Seebarsch und die Chorizo aus der Makrele. Über neunzig Prozent der Lebensmittel, die in der Küche des »Aponiente« verwendet werden, stammen aus dem Meer. Und Ángel León möchte den Anteil weiter steigern. Er sagt immer, dass unser Planet eigentlich völlig zu Unrecht Erde genannt wird. Richtig müsste er Meer heißen. Über zwei Drittel der Oberfläche besteht aus Wasser und auch wir Menschen bestehen zu knapp zwei Dritteln daraus. Ángel León nutzt das Meer als Speisekammer. Treffend wird er daher in Spanien als »Chef del Mar« betitelt. 

Fisch und Sherry

Die Location des »Aponiente« weiß bereits von außen zu beeindrucken. Das Restaurant ist in einer alten Gezeitenmühle aus dem 19. Jahrhundert untergebracht, die viele Jahrzehnte leer stand. Von einem befreundeten Architekten gekonnt adaptiert, empfängt das »Aponiente« hier nun seine Gäste. Ringsum Marschland soweit das Auge reicht. Die Gezeiten verändern die Landschaft, mal hat das Wasser die Oberhand, mal sieht man nur einige Kanäle und spärliche Vegetation. Empfangen werden die Gäste im weiten Vorhof. Hier gibt es einen ersten Willkommensgruß: Crackers mit mariniertem Tintenfisch, Speck vom Fisch mit Datteln, frittierte Tartelettes mit Minishrimps und Planktonemulsion. Köstlich! Dazu der passende Service: professionell, eloquent, aber nie zu steif. Weiter geht es zur nächsten Station vor der großen, offenen Küche des Restaurants. Hier werden kleine Sardinenstücke über dem Holzkohlegrill gegart. Der Wein dazu? Selbstverständlich ein Sherry, ein knochentrockener Fino von Lustau.

Danach endlich geht’s zum eigentlichen Tisch. Das Restaurant ist für ein Drei-Sterne-Haus überraschend groß, viele Tische, alle voll besetzt. Und der Service läuft wie am Schnürchen. Nach den Kostproben vom Wurstwagen geht es weiter mit allerlei anderem Meeresgetier, darunter ein knackig-salziger Salat von Marschpflanzen, marinierte Meeresschnecken und hauchdünn geschnittener Tintenfisch im Sud. Die beiden Hauptgänge sind grandios: Wange vom Seehecht mit einer Emulsion aus Algen und die »Atlantic Porchetta«: ganze Filetteile diverser Fische, eingerollt in einen teigähnlichen Mantel aus weniger edlen Fischteilen. Und wie könnte es anders sein, sind hier auch die Desserts vom Meer bestimmt. Zuerst wird ein erfrischendes geeistes Süppchen aus Muscheln gereicht, darauf folgt eine Tarte Tatin aus Algen. Was nun ein wenig schräg klingen mag, schmeckt tatsächlich überaus köstlich. Die Auswahl an ausgewählten Sherrys, die die Sommelière dazu empfiehlt, zeigt, welche Vielfalt in diesem leider viel zu wenig beachteten Weinbaugebiet liegt. 

Speisekammer Meer

Ángel León ist davon überzeugt, dass die Vielfalt des Meeres die Zukunft unserer Ernährung maßgeblich prägen wird. Das »Aponiente« hat für ihn so gesehen auch einen Bildungsauftrag.

 

Wir müssen den Menschen, die hierher zu uns kommen, die Vielfalt des Meeres näherbringen. Bisher nutzen wir nur 40 Prozent des Potenzials der maritimen Lebensmittel. Wir müssen den Lebensraum Meer sinnvoller nutzen und aufhören, einfach nur einige wenige Edelfischarten zu verwenden und diese dabei auszurotten.

Deshalb verarbeitet León gern unbekanntere Fischarten in seinen Würsten und den anderen Gerichten, um sie den Menschen schmackhaft zu machen. Der sogenannte Beifang, der bei einer Tonne Edelfisch bis zu fünf Tonnen ausmachen kann und üblicherweise kaum genutzt wird, kann so auch verwendet werden. »Wir haben hier 60 bis 70 Fischarten in der Region, die Menschen kannten lange aber nur fünf bis sechs, die bereits überfischt sind. Wenn wir mehr Arten nutzen, ist das also gut für den Bestand und gut für die Fischer, die weniger Beifang haben.«

Unbekanntes Powerfood

Das Meer hat es Ángel León, der in Cadíz aufwuchs, angetan, seit er als Kind mit seinem Vater zum Fischen rausfuhr. Nach Lehrjahren in anderen Regionen Spaniens und in Frankreich kam er zurück und eröffnete sein eigenes Res­taurant. Seine frühe Vision vom Meeresrestaurant nahm immer konkretere Formen an. In dem ersten kleinen Lokal in Puerto de Santa Maria, ein Ort von dem einst Christoph Kolumbus zu seinen Reisen aufbrach, erhielt er 2010 den ersten Stern, 2015 kam der zweite und nach dem Umzug in die neue Location in El Puerto de Santa Maria folgte 2017 der dritte Stern. Fleisch, aber auch Milch oder Butter hat León im Laufe der Zeit völlig von den Zutaten gestrichen. Edelfische, die in vielen Restaurants der Welt zum Standard zählen, setzt er nur sehr sparsam ein. Das Meer bietet noch viel mehr wertvolle Lebensmittel, ist er überzeugt.

Diese Überzeugung setzt er auch in die Tat um. Seit Jahren forscht León in Zusammenarbeit mit Meeresbiologen der Universität nach Möglichkeiten, maritime Pflanzen als Lebensmittel zu nutzen. Dabei kann er schon auf einige beachtliche Erfolge verweisen. Seinem Team ist es gelungen, aus vielen Litern Wasser Plankton zu extrahieren und schließlich selbst zu züchten. Das steht nun täglich auf der Speisekarte des »Aponiente«. Plankton hat alle Eigenschaften eines Superfoods: Es ist reich an Vitaminen und Mineralien und enthält 30 Mal so viel Omega-3-Fettsäuren wie Olivenöl. Dazu schmeckt es unglaublich umami. Ángel León verwendet es so in seinem Risotto anstelle von Parmesan. Beim Plankton hat León auch große Beharrlichkeit bewiesen. Ganze sieben Jahre dauerte das Genehmigungsverfahren, ehe die EU die Zulassung als Lebensmittel freigab. Ein anderes Projekt sieht die großflächige Anpflanzung von gemeinem Seegras (Zostera Marina) auf den Salzwiesen des Marschlandes um die alte Gezeitenmühle vor. Die Körner des Seegrases haben Ähnlichkeit mit Reis oder Quinoa und können auch in der Küche ähnlich genutzt werden. Wie Plankton ist es reich an Omega-3 und kann für Ángel León entscheidend zur besseren Ernährung der Weltbevölkerung beitragen. Im »Aponiente« lassen sich so kreative, schmackhafte Küche, Gesundheit und Nachhaltigkeit wunderbar vereinen.

Maritime Avantgarde

Elena Arzak 

Mit dem »Arzak« in San Sebastián haben Elena und ihr Vater Juan Mari Arzak den Gipfel baskischer Finesse erklommen. Ihre einzige Konstante? Veränderung! Da wird schon einmal Wolfsbarsch auf einem Tablet serviert, das Bewegtbilder des Meeres zeigt.

Dabiz Muñoz

»Avantgarde-Küche, in der alles möglich ist« – nicht weniger verspricht der Madrilene, der mit Gerichten wie »Galizischer Hummer, der an den Stränden von Goa aufwacht« stets zu überraschen weiß. Die Konsequenz: Drei Michelin-Sterne für Muñoz’ hochgradig kreatives »DiverXO« in Spaniens Hauptstadt.

René Redzepi

Im Kopenhagener »Noma« gibt es drei kulinarische Jahreszeiten: Gemüse im Sommer, Wild im Winter, Meeresfrüchte im Frühjahr. Letzteres zeigt: Redzepi hat nicht nur die Regionalküche revolutioniert, er weiß auch die Produkte aus den kalten Gewässern des Nordens virtuos in Szene zu setzen.


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Erschienen in
Falstaff Nr. 02/2023

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Othmar Kiem
Othmar Kiem
Chefredakteur Falstaff Italien
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