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Essay: Vorbildliche New Yorker

Neun Millionen Menschen, an die 300 verschiedene Nachbarschaften – wer versucht, diese Metropole in wenigen Sätzen zu charakterisieren, wird zwangsläufig scheitern. Denn New York entzieht sich konsequent allen Vereinheitlichungen – außer es herrscht Ausnahmezustand.

Es war Anfang Februar, als New York plötzlich aufblühte. Grund dafür war jedoch kein unerwarteter Temperaturanstieg, sondern ein Uhu namens Flaco, den irgendjemand aus dem Zoo im Central Park freigelassen hatte. Zur Motivation der Tat lässt sich bis heute nur spekulieren. Nüchtern betrachtet muss man über das in Flacos Gehege geschnittene Loch aber unendlich dankbar sein. Denn was folgte, war eine kleine Periode, in der sich die Stadt in absoluter Spitzenform präsentierte.

Erst jubelten die Birdwatcher ob des exotischen Anschauungsobjekts: diese orange-leuchtenden Augen! Schnell schickten die Zeitungen ihre Reporter in den Park, um das tierische Treiben zu dokumentieren. Flaco mit Ratte in den Krallen. Flaco entwischt der Polizei. Flaco streckt seine beige-braunen Flügel. Flaco schläft.

Von Tag zu Tag strömten nun immer mehr Menschen ins Grüne von Manhattan, um ein Foto zu ergattern, was wiederum die Birdwatcher echauffierte, die auf das Stresslevel des Uhus hinwiesen. Auf Twitter wurde seine Live-Position geteilt. Abends diskutierte man in den Kneipen über das neue Leben des Raubvogels in der urbanen Wildnis. In renommierten Magazinen erschienen die ersten Essays: Flaco, der quasi-anarchistische Dissident.

Ich liebe es, wenn sich die New Yorker mit ironisch-verspielter Hybris in ein bestimmtes Thema verbeißen und nicht mehr davon lassen. Meist stecken reale Sehnsüchte dahinter, in diesem Fall vielleicht der Wunsch nach plötzlicher Freiheit – oder schlicht etwas Ablenkung vom mühevollen Alltag. Keine mir bekannte Stadt ist jedenfalls so gut darin, »den Ernst wiederzufinden, den man als Kind hatte, beim Spiel«, wie Friedrich Nietzsche die »Reife des Mannes« brillant definiert hat. Es geht um eine Leichtigkeit, die das Leben für voll nimmt.

Ausnahmezustand

Seien wir ehrlich: Wer versucht, eine Metropole wie New York, mit knapp neun Millionen Einwohnern und etwa 300 verschiedenen Nachbarschaften, in ein paar Sätzen zu charakterisieren, landet fast automatisch im Kitsch oder in der Banalität. New York ist die Stadt der Superlative, jaja. Gigantischer, lauter, schneller, klebriger, das stimmt schon alles irgendwie. Aber keine dieser Beschreibungen erfasst die Essenz der Stadt, schlicht, weil es eine Essenz gar nicht gibt.

Am ehesten wird New York eins, wenn Ausnahmezustand herrscht. Hurrikan Sandy im Jahr 2012 etwa erzeugte eine phänomenale Solidarität. Auch im ersten Corona-Frühling 2020 rückte die Stadt unter dem bedrückenden Sound der Krankenwagensirenen zusammen. Kurze Zeit später, nach dem Mord an George Floyd in Minneapolis, war New York einen Monat lang von »Black Lives Matter«-Protesten bestimmt. Und manchmal sind es eben die kleinen Geschichten, die einen Hauch von großer Gemeinschaft bringen. Flaco zum Beispiel.

Ich möchte die Erzählung von den Superlativen nicht beiseitewischen – zweifellos ist New York rasend und stressig, eine Stadt, die enorm viel Energie gibt und noch mehr schluckt. Vor allem die hohen Preise sind für normale Menschen so zermürbend, dass man sie nicht ignorieren kann. Einige Freunde sind in den vergangenen Jahren weggezogen, weil sie sich Brooklyn nicht mehr leisten können. Ich selbst musste mir ab und zu Geld leihen, um meine Miete zahlen zu können. Zwar hat man nach einer Weile heraus, wo es billiges und gutes Street Food gibt – die trinidadischen Doubles zum Beispiel, mit Kichererbsencurry gefüllte Fladenbrote, gibt es bei mir um die Ecke für nur 1,50 Dollar das Stück. Auch das traditionelle New York Slice, ein Stück Mozzarella-Pizza, findet man noch günstig. Dann hört es aber auch schon bald auf. Ein bekannter Feuilletonist warnte mich vor dem Umzug, dass man als deutscher Korrespondent in New York irgendwann Ego-Probleme bekommt, weil man vor Ort nicht erkannt und gelesen werde. Aber das für mich dringendere Problem ist eher, dass Vanille-Joghurt und Karotten so unerhört teuer sind. Vergleichsweise harmlose Probleme sind das in meinem Fall, klar. Sollte ich New York aber irgendwann einmal verlassen, wird es ziemlich sicher an den hohen Kosten liegen.

Trotz allem Dauerstress – oder vielleicht gerade deswegen – findet sich in New York eine spezielle Lässigkeit im Alltag. »Hey, honey«, begrüßt mich die schwarze Postbeamtin mit Netz im Haar, als wäre ich ihr Neffe. »How are you, brother?«, fragt mich der junge Verkäufer im Bodega. In New York treffen sich die Blicke anders. Viel häufiger als in meiner Heimatstadt Berlin sage ich fremden Menschen auf der Straße einfach hallo. Mitteleuropäer stören sich manchmal an der vermeintlichen Oberflächlichkeit der Amerikaner. Ich freue mich, dass die Leute hier wissen, wie Smalltalk geht. Es ist doch eine Kunst, den kurzen Moment so nett wie möglich zu gestalten. Es ist doch eine Kunst, mit kleinen Geschichtchen die Zeit zu überbrücken.

Keine Stadt ist so gut darin wie New York, den Ernst wiederzufinden, den man als Kind hatte, beim Spiel.

Zeit-los

Apropos Zeit: Am sympathischsten sind mir die New Yorker, die sich dem Tempo der Stadt auf unterschiedliche Weise entziehen. Die alten Männer, die tagsüber in Crown Heights auf dem Gehweg um ein Schachbrett sitzen. Der Eismann, der mit Düdelidü nahezu tranceartig zwischen Schlaglöchern umherschleicht. Auch die vielen Streikenden der vergangenen Jahre, von Starbucks-Verkäuferinnen über Krankenpfleger bis Professorinnen, helfen dabei, »einen anderen Alltag zu erproben«, wie die Philosophin Eva von Redecker den »aktiven Streik« beschreibt. »Oder vielleicht noch treffender: ein Aussetzen des Alltags, um eine andere Arbeit zu erproben.«

Für kreative Verweigerung ist auch die New Yorker Schriftstellerin Fran Lebowitz bekannt, die seit ein paar Jahrzehnten davon lebt, Vorträge darüber zu halten, dass sie eine Schreibblockade hat. Neulich stand ich neben Lebowitz, es war im Backyard, im Hinterhof eines Freundes, der zum iranischen Buffet geladen hatte. Rechts von uns der Grill mit Dschudsche Kabāb, links eine Wanne voller Bud-Light-Büchsen. Ich überlegte kurz, sie anzusprechen, trotz ihrer berüchtigten Grummeligkeit. Ich ließ es dann doch und beobachtete kurze Zeit später, wie sie sich etwas angeekelt vom Tisch entfernte, als ein Kind Saft verschüttete.

Ich sah Fran und musste an Flaco denken. Zwei Wesen, die sich ganz anders verhalten als erwartet. Vorbildliche New Yorker.


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Erschienen in
Falstaff Nr. 07/2023

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Lukas Hermsmeier
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