Luft im Fass führt unweigerlich zur Oxidation seines Inhalts. Aromatisch vielschichtig wird es jedoch, wenn ein Hefeflor auf der Oberfläche des Weins wächst.

Luft im Fass führt unweigerlich zur Oxidation seines Inhalts. Aromatisch vielschichtig wird es jedoch, wenn ein Hefeflor auf der Oberfläche des Weins wächst.
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Oxidative Weine: Gemacht aus Luft und Liebe

Oxidation kann ein Weinfehler sein. Doch werden oxidative Ausbauverfahren mit Sorgfalt und Können eingesetzt, ergeben sie Charakterweine von unvergleichlichem Stil.

Louis Pasteur kennt man als Namensgeber des ­Pasteurisierens und als Vater der Mikrobiologie. Weniger bekannt ist, dass Pasteur in Arbois im Jura aufgewachsen ist – und dass ihm die eigenwillige oxidative Ausbauweise, die die Winzer dort seit Jahrhunderten pflegen, ­wichtiges Studienmaterial für seine Forschung ­lieferte. Denn als Napoleon III. Pasteur im Jahr 1863 beauftragte, die Ursache für das vom Weinhandel immer lauter beklagte »Umschlagen« von Weinen zu erforschen, zog es Pasteur, damals bereits ein gefeierter Professor in Paris und Mitglied der Akademie der Wissenschaften, zurück in seine Heimatstadt Arbois. Er richtete sich ein improvisiertes Labor ein, nahm in den Kellern der Winzer Proben und untersuchte sie. Schon bald reichte ihm ein kurzer Blick ins Mikroskop, und er konnte vorhersagen, ob der betreffende Wein gut oder schlecht schmeckte: Er hatte ein Bakterium als Schuldigen für den Essigstich ausgemacht und zudem herausgefunden, dass dieses Bakterium Sauerstoff benötigt.

Ungespritet und trocken

Nun wird der Vin Jaune aus dem Jura, gleich, ob er aus den Appellationen Arbois, Château-Chalon, L’Étoile oder Côtes du Jura stammt, mindestens sechs Jahre und drei Monate lang gezielt dem Sauerstoff ausgesetzt: Die Fässer werden von Anfang an nicht spundvoll gemacht, und auch der Verlust durch Verdunstung wird nicht aufgefüllt. Dass der Vin Jaune dennoch in der Regel ein komplexer und kein essig­stichiger Wein ist, liegt zum einen daran, dass sich in den Fässern auf der Oberfläche des Weins ein Hefeflor bildet, genau wie beim Sherry. Zum anderen ermöglichen die Höhenlage des Jura und die Kühle der Keller, dass das Kunststück beim Vin Jaune sogar ohne Zugabe von Alkohol als zusätzliche Barriere gegen Essigsäure­bakterien gelingt. Beim Sherry, der auf Meereshöhe erzeugt wird, ist das »Spriten« des Weins unverzichtbar: Denn hier ist die Luft reicher an Keimen als auf 400 Metern über Meer, und auch die wärmeren Temperaturen tragen dazu bei, dass es im Süden keine ungespriteten oxidativen Weine gibt.

Ein entfernter Verwandter des Vin Jaune ist der Gletscherwein aus dem Schweizer Kanton Wallis. In diesem Fall findet der Ausbau sogar oberhalb von 1.200 Metern statt. Der Vin du Glacier wird im Tal aus Lokalsorten wie Rèze gekeltert und danach in die Berge gebracht. Er hat sich niemals als kommerzielles Produkt etabliert, man kann ihn aber im Keller der Bürgergemeinde von Grimentz und einiger anderer Ortschaften im Val d’Anniviers probieren. Historisch war er ein Wein, der bei Begräbnissen getrunken wurde – weil sein oxidativer und zugleich lebendiger Geschmack einem die Dialektik von Vergänglichkeit und Dauerhaftigkeit auf die Zunge trägt.

ZUM TASTING


Was ist Oxidation?

Die Chemie definiert eine Oxidation als die Abgabe von Elektronen durch ein Element oder Molekül – typischerweise durch eine Bindung an Sauerstoff. Eine Oxidation geht stets mit einer Reduktion einher: Das Atom oder Molekül, das die frei werdenden Elektronen aufnimmt, wird »reduziert«. Beim Ausbau des Weins führt beispielsweise das Umziehen des Weins von einem Fass in ein anderes zu einer (leichten) Oxidation. Auch ein Luftspiegel im Fass oder Tank wirkt oxidierend, während im Wein gelöste Hefe als Oxidationsschutz dienen kann. Die beiden wichtigsten Maßnahmen gegen Oxidation sind das Spundvollhalten des Lagerbehältnisses und das Schwefeln des Weins.

Die Beschreibung »oxidiert« wird häufig im negativen Sinn verwendet. Jeder Weinkenner kennt den Fall, dass er im Restaurant einen glasweise angebotenen Wein aus einer bereits zu lange geöffneten Flasche ausgeschenkt bekommt: In diesem Fall riecht der Wein nach Acetaldehyd. Der Acetaldehyd entsteht durch die Oxidation von Ethylalkohol, sein Geruch gleicht dem eines angeschnittenen Apfels. Das Schwefeln von Wein dient unter anderem dazu, den mit Schwefeldioxid reaktionsfreudigen Acetaldehyd zu binden und dadurch aus dem Spiel zu nehmen. 

Böse Oxidation, gute Oxidation 

Nicht alle Oxidationen verlaufen jedoch so, dass sie die Komplexität des Weins schädigen. Die Frucht verändert sich in jedem Fall – doch in Vin Jaune, Sherry, Tawny Port oder Madeira wirkt die Oxidation geschmacklich bereichernd. Dabei spielt die durch Enzyme vermittelte Oxidation von Phenolen eine bedeutende Rolle. Je reichhaltiger das Angebot eines Weins an oxidierbaren Komponenten ist, desto geringer wird nach einem gekonnten oxidativen Ausbau die Konzentration des einzelnen Oxidationsprodukts sein und desto vielfältiger das Geschmackserlebnis. Eine der sich beim Vin Jaune typischerweise bildenden Substanzen ist übrigens eine Verbindung namens Sotolon, die auch das Aroma des Bockshornklees kennzeichnet.

PREMOX/vorzeitige Alterung

Eine besonders unerwünschte Oxidation stellt das Phänomen der vorzeitigen Alterung dar (»premature oxidation«, kurz: Premox), das erstmals Mitte der 1990er-Jahre bei Weißweinen aus Burgund auftrat – auch bei sehr teuren Abfüllungen. Schon nach wenigen Jahren hatten die betroffenen Weine eine intensiv gelbe Farbe und einen mostigen Geruch und Geschmack angenommen. Die meisten Winzer führen Premox auf schlechte Korken zurück: Mitte/Ende der Neunzigerjahre hatte die Korkindustrie tatsächlich mit Qualitätsproblemen zu kämpfen. Betriebe wie Comte Lafon und Domaine Leflaive haben daher auf den technischen Diam-Korken umgestellt. Andere diskutierte Gründe für Premox sind die in den 1990er-Jahren in Mode geratene Technik der intensiven Bâtonnage (des Hefeaufrührens im Fass), Stickstoffmangel im Weinberg oder zu geringe Schwefelgaben bei der Abfüllung. 


 

Ungespritete süße Weine

Tokaji und Vin Santo aus der Toskana sind die historischen Archetypen ungespriteter und oxidativ ausgebauter Süßweine – allerdings lassen die Herstellungsvorschriften dieser Weine auch einen reduktiven Ausbau zu. Gerade unter den Tokaji-Produzenten gibt es viele Modernisten, die einen oxidativen Einfluss in ihren Weinen ablehnen. Oft brandmarken sie das Unterlassen des Spundvollhaltens als eine Schlampigkeit aus kommunistischer Ära. Auch die traditionelleren Betriebe – Royal Tokaji etwa – setzen die oxidativen Komponenten nur noch auf zurückhaltende Weise ein. In der Toskana hingegen spielen ideologische Gründe keine Rolle: Die meisten Vini Santi werden hier, wie man es schon immer gemacht hat, im Fass sich selbst überlassen.

Gespritete trockene Weine

Die Bereitung von Fino, Manzanilla und Amontillado-Sherry verläuft analog derjenigen des Vin Jaune, allerdings mit dem Unterschied, dass der ­Alkoholgehalt des Weins durch Zusatz von Destillaten auf 15,5 Volumen­prozent oder mehr angehoben wird. Durch diesen zusätzlichen Schutz gegen die Aktivität von Essigsäurebakterien ist es auch möglich, die Reifung der Weine fortzuführen, selbst wenn der Hefeflor – wie beim Palo Cortado – irgendwann abstirbt oder, wie beim auf 18 Volu­menprozent und mehr aufgespriteten ­Oloroso, von Anbeginn nicht vorhanden war. In die Kategorie der trockenen gespriteten Oxidativweine fällt auch der ­Marsala (»vergine«), der 1773 vom englischen Kaufmann John Woodhouse nach Vorbild des Sherrys kreiert wurde und der auch in ­süßen Varianten (»oro«) produziert wird.

Gespritete süße Weine

Diese Kategorie ist diejenige mit dem reichhaltigsten Katalog an Herkünften: ­Portwein und Madeira sind die berühmtesten Vertreter, doch mit dem ­Moscatel de Setúbal existiert noch ein drittes ­portugiesisches Original in dieser ­Kategorie. In Spanien, und dort in Andalusien, gibt es neben süßen Sherry-Typen wie dem Pedro Ximénez und den süßen Versionen der DO Montilla-­Moriles vor allem den Málaga als gespriteten oxidativen Süßwein. In ­Frankreich werden diese Weine unter der Bezeichnung »vin doux naturel« zusammengefasst, die wichtigsten Herkünfte sind Banyuls und Maury (beide Roussillon, auf Basis von Grenache), Rivesaltes (ebenfalls ­Roussillon, auf Basis unterschiedlicher Sorten), ­Rasteau (­Grenache, Rhône) sowie eine ganze ­Reihe von Muskatellern: Muscat de Beaumes-de-­Venise (Rhône), Muscat de Frontignan, de ­Lunel, de Mireval, de Saint-Jean-de-­Minervois (alle Languedoc). Auch am östlichen Mittelmeer werden gespritete, oxidative Süßweine bereitet, so zum Beispiel der ­Mavrodaphne aus Patras in ­Griechenland oder der ­Koumandaría aus Zypern.


 

Erschienen in
Falstaff Nr. 02/2023

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Ulrich Sautter
Ulrich Sautter
Wein-Chefredakteur Deutschland
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