Wenn die Mäßigung zum Exzess wird, gehen Genuss, Lust und Muße zugrunde, sagt der österreichische Philosoph Robert Pfaller.

Wenn die Mäßigung zum Exzess wird, gehen Genuss, Lust und Muße zugrunde, sagt der österreichische Philosoph Robert Pfaller.
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Wofür es sich zu leben lohnt – oder warum Ungutes manchmal guttut

Prof. Robert Pfaller ist Philosoph, Buchautor – und souveräner Genießer. Was vor allem Letzteres bedeutet, wurde während eines Lunch-Talks in der Frankfurter »Villa Merton« klar: »Natürlich muss man gesund sein, um zu leben. Aber man lebt doch nicht, um gesund zu sein!« Ein Plädoyer für den Genuss, maßvolle Maßlosigkeit und das ein oder andere Schnäpschen.

Wobei kann man besser darüber diskutieren, wie Gesundheit, Genuss und ein freies, souveränes Leben Hand in Hand gehen können, als zwischen Hauptgang und Nachspeise? In ebendiesem Rahmen lud der Bundesverband der Spirituosenindustrie den international renommierten Philosophen Prof. Robert Pfaller zum legeren Plausch in die Frankfurter »Villa Merton«, wo dieser unterhaltsam eine Lanze für das Ungute brach und zugleich dazu ermunterte, selbstbewusst für den Genuss einzustehen.

»Wir erleben seit einigen Jahren eine eigenartige Stimmung in der Gesellschaft, in der man immer wieder von neuen Prioritäten erfasst wird. Nach der Finanzkrise musste überall gespart werden, Kosteneffizienz war die Priorität. Nach dem 11. September rückte die Sicherheit in den Fokus und nicht erst seit der Pandemie ist Gesundheit zur Priorität geworden«, so Pfaller. Das seien alles vernünftige Prinzipien, aber die Politik ziehe daraus oftmals den falschen Schluss, dass man diesen Prinzipien alles unterordnen müsse. Daher sei es auch interessant zu beobachten gewesen, wie sich diese Themen allesamt recht schnell wieder in ihr Gegenteil verkehrt hätten. »Es ist ja nicht nur so, dass wenn wir der Sicherheit alles opfern, Bürgerrechte, Würde und schließlich die Sicherheit selbst verlieren. Das gilt auch für die Gesundheit. Wenn wir ihr alles unterordnen, verlieren wir nicht nur Genuss und Muße, sondern entwickeln auch neue Krankheitsbilder wie die Orthorexie, eine Mangelerscheinung bei Menschen, die sich ausschließlich gesund ernähren.«

Sein eigener Souverän sein

Pfallers logische Schlussfolgerung daraus: »Man ist eben nicht nur auf der Welt, um zu leben, sondern auch um ein Leben zu haben! Wenn wir uns daran nicht erinnern, sind wir die Sklaven oder die Sachbearbeiter unserer Lebenserhaltung, aber wir sind keine souveränen, freien Menschen, die z.B. am Wochenende sagen können, ›so, liebes Leben, jetzt habe ich fünf Tage für dich geschuftet, jetzt zeig mir mal, was du für mich bereithältst.‹« Auch der französische Philosoph Georges Bataille habe das schon erkannt, als er sagte: »Natürlich muss man gesund sein, um zu leben. Aber wir leben doch nicht, um gesund zu sein.« Und Bataille habe hier den schönen Begriff der Souveränität geprägt, der genau das ausdrücke.

Philosoph und Buchautor Prof. Robert Pfaller lehrt an der Universität Linz Philosophie.
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Philosoph und Buchautor Prof. Robert Pfaller lehrt an der Universität Linz Philosophie.

Exzess der Mäßigung? Gilt es zu vermeiden!

Man brauche aber auch eine Reihe von Übungen im Leben, die dabei helfen, sich an diese Souveränität zu erinnern. Die wichtigsten dieser Praktiken seien dabei jene des Feierns. »Wir tanzen dann, als ob es kein Morgen gebe. Oder wir brüllen vor Begeisterung bei einem Erfolg im Sport, als ob das das Wichtigste auf der Welt wäre. Oder wir laden großzügig Freude ein, ganz als ob wir sie endlos verwöhnen und als ob der Champagner endlos fließen könnte«, so der Philosoph. »Schon Epikur hat gesagt, dass zur Erhaltung des Lebens die Mäßigung notwendig ist. Aber mit der Mäßigung muss man aufpassen und um sie ernst zu nehmen, muss man sie maßvoll betreiben. Sonst verkommt sie zum Gegenteil und wird zum Exzess der Mäßigung. Und in diesem Zustand befinden wir uns heute leider sehr oft.«

Man müsse aber auch bedenken, dass die Praktiken, die dem Feiern dienen und die uns daran erinnern, dass das Leben für uns da sein kann, immer mit etwas Ungutem verbunden seien, da sie ja erfordern, dass wir das übliche Maß, das wir bei der Lebenserhaltung anlegen, überschreiten. »Entweder wir trinken Alkohol, der berauscht und am nächsten Tag Kopfschmerz bereitet, oder wir feiern Partys, die Schlaf und die Sauberkeit der Wohnung kosten. Es ist immer ein gewisses Maß an Großzügigkeit und Verschwendung erforderlich.« Das sei auch ein Grund dafür, dass Menschen dem Thema Lust am Leben keineswegs spontan zugewandt sind. Sie seien ihr gegenüber eher zurückhaltend, weil sie eben diese Überschreitung erfordere. »Das ist mit ein Grund dafür, dass wir alleine keine Lust haben, Alkohol zu trinken oder alleine zu essen

Gemeinschaft erlaubt Genuss ohne schlechtes Gewissen

Hier aber komme die wichtigste Funktion, die Kultur und Geselligkeit für den Menschen haben, ins Spiel: »Das ist der Punkt, wo Menschen ohne schlechtes Gewissen genießen können, wenn sie eine Ermutigung durch die Gesellschaft haben. So ist es uns auch gelungen, etwas Ungutes, Schwieriges in etwas Großartiges zu verwandeln. Man kann den Geburtstag eines Erwachsenen einfach nicht mit Mineralwasser begehen. So kann man keinen Moment der Feierlichkeit eröffnen. Das ist der Grund, warum viele Lösungen, die uns die postmoderne Kultur so gerne anbietet, also Dinge, die die problematische Dimension eliminieren – z.B. alkoholfreien Wein, alkoholfreies Bier, koffeinfreier Kaffee – uns nicht wirklich befriedigen«, so Professor Pfaller. Eines der größten Probleme, das viele Menschen mit dem Genuss haben, sei zudem der Umstand, dass ihnen das Bewusstsein der Geselligkeit als Vorbedingung für den Genuss verloren gehe. Man höre Sätze wie »Der Genuss des Einen muss da aufhören, wo es den Anderen zu stören beginnt.«

Lebt ein Leben, das den Namen auch verdient

Doch die Freiheit sei nichts, was man individualisieren könne. Man könne nur frei sein, wenn das auch für alle anderen gelte. »Gerade beim Genuss ist das entscheidend, denn eine bestimmte Kulturstimmung will uns weismachen, dass diejenigen, die noch Glück empfinden können, die noch genießen, sozusagen die Diebe unseres eigenen Glücks wären. Die Raucherin, die uns freundlich eine Zigarette anbietet, kann dann nur eine Süchtige sein, die uns in ihr Leid hineinziehen will, anstatt zu verstehen, dass hier eine Praxis der Großzügigkeit herrscht, die es ermöglicht, etwas Ungutes in etwas Großartiges zu verwandeln. Der andere, der noch Glück hat oder empfindet, ist aber mitnichten eine Bedrohung unseres eigenen Glücks.« Nur wenn man den anderen als Verbündeten begreife, der einem selbst helfe, Glück zu empfinden, könne man in eine bestimmte Richtung wachsen. So müsse auch die Politik von ihrer Bevormundung wegkommen, denn diese erzeuge weder genussfähige noch mündige Bürger. Eine Politik, die beides wolle, müsse den Leuten sagen: »Ihr seid erwachsen, ihr wisst, ihr werdet so oder so eines Tages sterben. Bitte sorgt dafür, dass das, was vorher passiert, wenigstens den Namen verdient, ein Leben gewesen zu sein.«

Buchtipp

Unsere Kultur hat sich den Zugang zu Glamour, Großzügigkeit und Genuss versperrt – wir vermeintlich abgebrühten Hedonisten rufen schnell nach Verbot und Polizei, beim Rauchen, Sex, schwarzen Humor oder Fluchen. Alles Befreiende oder Mondäne dieser Praktiken geht dabei verloren. Robert Pfaller untersucht in seinem Buch, warum es so gekommen ist und was sich dahinter verbirgt.


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Alexander Thürer
Alexander Thürer
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