Ana Roš ist stark beeinflusst von der Natur ihrer Heimat, den Julischen Alpen in Slowenien. Im aktuellen Menü serviert sie mitunter frittierten Löwenzahn.

Ana Roš ist stark beeinflusst von der Natur ihrer Heimat, den Julischen Alpen in Slowenien. Im aktuellen Menü serviert sie mitunter frittierten Löwenzahn.
© Suzan Gabrijan

Alpine Küche: Vorreiter in der Gourmetwelt

Wer die Alpen als das begreift, was sie sind – das wichtigste Bergmassiv Europas zwischen der Côte d’Azur und Wien –, merkt, dass die alpine Küche längst eine Vorreiterrolle in der Gourmetwelt eingenommen hat.

Was haben Ana Roš, Mauro Colagreco und Massimo Bottura gemeinsam? Alle drei sind erstklassige Köche und derzeit in aller Munde. Im übertragenen Sinne wenigstens. Am wichtigsten und überraschendsten aber: Sie alle sind mehr oder weniger von den Alpen beeinflusst. Ana Roš’ Restaurant »Hiša Franko« befindet sich im Ort Kobarid in den Julischen Alpen, wenige Kilometer von der italienischen Grenze entfernt. Unweit von hochalpinen Weideplätzen und dem smaragdfarbigen Fluss Socˇa, entwickelte sie eine Küche, die eng verbunden ist mit den Traditionen und der Natur zwischen den Bergen und dem Meer. Roš serviert ihren Gästen, was die Natur in ihrer Region in der jeweiligen Jahreszeit zu bieten hat. Kräuter und Früchte spielen in dem Lokal genauso eine tragende Rolle wie Fisch aus den sauberen Gewässern oder der erstklassige Käse aus der Region, den Roš’ Mann Valter gemeinsam mit slowenischen Naturweinen nicht nur kredenzt, sondern selber zur Perfektion reift. Zu den berühmtesten Gerichten von Roš gehören sicher ihre Ravioli – kleine Kunstwerke, etwa verfeinert mit Liebstöckel und serviert mit regionalen Pilzen – wenn diese gerade Saison haben natürlich.

Inspiration von Berg und Meer

Fast 600 Kilometer entfernt, auf der anderen Seite des Alpenbogens, befindet sich der Ort Menton – in Frankreich an der Côte d’Azur und ebenfalls unweit der italienischen Grenze gelegen. Der hier ansässige Mauro Colagreco und sein »Mirazur« führen derzeit die Liste der »50 Best Restaurants« an. Er gehört zu den gefragtesten Köchen der Welt. Das Meer steht an der Côte d’Azur natürlich für viele im Vordergrund. Dass hier in den sogenannten Seealpen eben diese ins Mittelmeer tauchen, wird oft vergessen. Dem gebürtigen Argentinier Colagreco selbst ist allerdings sehr wohl bewusst, dass er sich nicht nur vom Meer, sondern auch von den Bergen inspirieren lässt.

Die urige Rote Bete wächst in Menton genauso wie Zitronen und sogar Oliven. Colagreco kombiniert beispielsweise Tintenfisch mit der piemontesischen Bagna cauda und Artischocken. Grenzen überwindende Gerichte im Grenzgebiet quasi. Die Westalpen sind eben für manche Überraschung gut. Genauso wie Massimo Bottura, der den Alpen gar einen Teil seines Legendenstatus verdankt.

2012 zerstörte ein Erdbeben in Norditalien fast eine halbe Million Parmigiano-Reggiano-Laibe und machte damit gut die Hälfte der italienischen Parmesanproduktion praktisch unverkäuflich. Bottura stellte also ein Rezept für Parmesan-Pfeffer-Risotto ins Internet. Das Rezept wurde auf der ganzen Welt nachgekocht. Und zwar so oft, dass die gesamte Produktion samt den beschädigten Laiben schon bald ausverkauft war. Die Geschichte wurde in der Netflix-Serie »Chef’s Table« im Jahr 2015 erzählt, die Bottura zu einem nie dagewesenen Höhenflug verhalf. Das Erdbeben, das den Parmesan zerstörte, entstand übrigens durch den Apennin, der in der Emilia-Romagna auf die Alpen drückt. Und auch die Rezeptur des von Bottura so heiß geliebten Parmigiano Reggiano ist sicher nicht isoliert in der Emilia entstanden.

Laut Dominik Flammer, Experte für Alpenkulinarik, entwickelte sich der Käsekult um die Alpen aus internationaler Zusammenarbeit. Natürlich, diese Aussage wird wohl jedem Parmesan-Hersteller und -Liebhaber die Zornesröte ins Gesicht treiben, was wiederum ganz gut zeigt, warum die Alpen eben kein neues Skandinavien in der Gourmetwelt sein können oder wollen. »Die Skandinavier vermarkten alles Skandinavische als regional«, sagt Flammer im Falstaff-Interview. »Der Alpenbogen ist sechsmal kleiner als Skandinavien – wir haben eine enorme regionale Produktvielfalt und Biodiversität, die wir einfach noch nicht genug kennen.« Vielleicht sind die Alpen zu divers, um sie über einen Kamm zu scheren.

Geschmack durch Vielfalt

Doch was genau ist sie denn, die Alpenküche? Wie jede Regionalküche ist auch die Alpenküche von den Produkten und Traditionen geprägt, die in der unmittelbaren Umgebung der Köche und Lokale vorhanden sind. Der Austausch über die Berge hinaus und gleichzeitig die Isolation einiger Gebiete, eigene Mikroklimata, Kulturen und gar Sprachen prägen die Alpenregionen. Mehr Vielfalt gibt es auf kleinem Raum kaum. Konkret sind die Alpen geprägt von den Erzeugnissen der Landwirtschaft und von der Natur, von Milchprodukten etwa, von Fisch aus sauberen Gewässern, von Wild und von Pflanzen, die auch im Gebirge zu finden sind – Sauerklee etwa oder Sanddorn, um nur zwei Beispiele zu nennen.

Auf acht Länder verteilt sich das Alpenmassiv: Frankreich, Monaco, Italien, Schweiz, Liechtenstein, Deutschland, Österreich und Slowenien. Das Herz der Alpen und auch ihrer Kulinarik liegt vermutlich in den als »Alpenländer« bekannten Staaten Schweiz und Österreich. Wenig überraschend: Die besten Köche dieser Länder gehören heute zur Speerspitze dessen, was wir als »New Alpine Cuisine« verstehen können.

Andreas Döllerer gehört sicher zu den Vorreitern der modernen alpinen Gourmetküche. Seine »Cuisine Alpine« ist geprägt von den Salzburger Alpen. Natürlich, Milch und Milchprodukte spielen hier eine große Rolle, aber ebenso erstklassige Süßwasserfische, Wildfleisch, -früchte und -kräuter oder in der Saison auch Pilze. Zu Döllerers berühmtesten Kreationen gehört die »Alpine Jakobsmuschel«, die das Konzept ganz gut erklärt. Dafür richtet der Koch geschmortes und geflämmtes Ochsenmark in einer Jakobsmuschel an und serviert sie mit Spitzkraut und selbst fermentiertem Knoblauch. Aus dem Meer stammt hier einzig die Schale zum Anrichten, der Rest ist eben echt alpin.

Nicht nur Döllerer, viele andere österreichische Köche treiben es mit ihren heimischen Einflüssen heute auf die Spitze. Heinz Reitbauer vom »Steirereck« kocht genauso alpin wie Thorsten Probost, der während seiner Zeit in der »Griggeler Stuba« in Lech am Arlberg wichtige Pionierarbeit für das Verständnis regionaler Küche einer ganzen Region leistete. Diese Liste könnte endlos fortgeführt werden, was mitunter das Verdienst der genannten drei Köche ist.

Auch der Erfolg der nordischen Küche fußt auf dem Pioniergeist weniger. Der Schweizer Dreisternekoch Andreas Caminada pflegt weltweit Kontakte und immer wieder sind große Kochpersönlichkeiten in seinem »Schloss Schauenstein« im Kanton Graubünden zu Gast. Schon vor Jahren begann er, sich über die Grenzen hinaus zu vernetzen und an der Idee einer alpinen Küche zu feilen. Wer bei ihm einkehrt, merkt allerdings schnell, dass der Koch darunter nicht etwa den Verzicht auf gewisse Produkte versteht. Dogmatisch ist Caminada nicht.

Zu den Caminada-Lieblingen gehört die Langustine ebenso wie Wild oder der unprätentiöse Kopfsalat, den er geflämmt, geeist oder auch geschmort serviert. Die Tendenz der letzten Jahre zeigt aber klar Richtung Regionalität – das gilt für Andreas Caminada genauso wie für seine Zöglinge, darunter die Shootingstars Sven Wassmer oder Silvio Germann. Die Protagonisten der neuen alpinen Küche verstehen es je länger je besser, regionale Produkte ohne Folklore einzusetzen. Und die Kritiker und Gäste scheinen genau davon begeistert zu sein. Ein sicheres Zeichen dafür, dass die Alpen längst zu den wichtigsten Gourmet-Hotspots Europas gehören.

Erschienen in
Gourmet im Schnee 2019

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Benjamin Herzog
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