© Gina Mülller

Corona: Neue Spielregeln für die Gesellschaft

COVID-19 wird nicht verschwinden, es bleibt. Daher brauchen wir neue Werte und Verhaltensmaßregeln und müssen lernen, uns zu arrangieren.

Zukunft ist heute. COVID-19 ist drauf und dran, die Welt, wie man sie noch vor Kurzem gewohnt war, völlig umzukrempeln. Das Virus wird noch lange unser Zusammenleben prägen. In ihrem neuen Buch »Startklar – Aufbruch in die Welt nach COVID-19« vertritt die Wiener Psychotherapeutin Martina Leibovici-Mühlberger sogar die These, das Virus sei »ein Brandbeschleuniger für eine tiefe ideelle Krise. Es ist ein biologisches Symptom, das auf den Nährboden einer taumelnden Gesellschaft trifft und gerade deswegen diese globale Wucht entfalten kann«. Und es werde dem Zeitalter des »narzisstischen Individualismus« den Garaus machen.

Mit dem Virus leben

Mag es im Augenblick auch scheinen, als flachten in Teilen Europas die Ansteckungs­raten ab, bleibt die Bedrohung doch bestehen. Die Pandemie kann jederzeit neu aufflammen – wie bei der Spanischen Grippe, die zwischen 1918 und 1920 in drei Wellen um die Erde raste und 50 Millionen Leben dahinraffte. Wirksame Medikamente oder ein Impfstoff liegen noch in der Ferne.

Corona wird nicht verschwinden

Das Virus bedroht ­allerdings nicht nur die gesundheitliche Balance der Gesellschaft, es beeinflusst das Denken und beschädigt die Wirtschaft. Man kann den virologischen Aspekt nicht von den psychologischen und ökonomischen Effekten abkoppeln. Sie bilden eine Trias und bedingen ein­ander. Corona wird nicht von der Erde verschwinden. Zudem dürften viele Auswirkungen des Virus irreversibel sein. Deswegen ist zu überlegen, wie wir mit ihm leben können. So wie die Menschheit schon bisher gelernt hat, mit infektiösen Krankheiten zu koexistieren.

Helden für die Welt

Dabei geht es zunächst um ganz banale ­Dinge, etwa die Art, wie man einander ohne Handschlag begrüßt. Mit einem »Einkla­tschen« der Ellenbogen oder mit militärischem Salutieren? Es müssen auch Wege ­gefunden werden, wie man größere Gruppen in öffentlichen Räumen möglichst ri­sikolos organisiert. Aber das sind nur Details, die die soziale Interaktion nicht wesentlich beeinträchtigen.

Doch stehen weit bedeutendere Ände­rungen bevor. Wenn es einen Status ex ante nicht geben wird, muss sich die Gesellschaft zwangsläufig transformieren. COVID-19 hat das gesamte Wertegebäude infrage gestellt. Erfolgstypen von gestern sahen sich als Wallstreet-Wölfe, die der Regel folgten, jeden Vorteil, der sich bietet, skrupellos auszunutzen. Jetzt wird die Verwundbarkeit dieser Tausendsassas vor Augen geführt.

Dem Krisenmodus entrinnen

Plötzlich stehen soziale Aspekte im Vordergrund. Das ­aktuelle Wertemodell ist vielmehr von Kooperation als von Konkurrenz geprägt, der Erfolgsmaßstab wird von Empathie und wertschätzendem Umgang miteinander bestimmt. Denn nur, wenn sich die Gesell­schaft neu orientiert, kann sie ihrem Krisenmodus entrinnen. Dieser Wandel begann schon, als durch das Virus die Berufshierarchien durcheinandergewirbelt wurden. Plötzlich wurden Müllmänner, Pflegerinnen und Supermarktmitarbeiter als Helden gefeiert, und sogar die Politik erkannte, dass die Entlohnung dieser Systemerhalter weit unter dem liegt, was ihrem Beitrag zum gesellschaftlichen ­Leben entspricht. Mittelfristig wird dadurch das gesamte Lohnge­füge auf dem Prüfstand stehen.

Distanzierte Gesellschaft

Noch verstehen wir das Virus und seine Funktionsweise nicht annähernd gut genug. Doch je mehr sich die Daten und Erfahrungs­berichte häufen, desto rascher wird sich das soziale Gefüge zu einer resilienten Gesellschaft wandeln. Sie wird neue Rituale ent­wickeln, die der gesundheitlichen Bedrohung Rechnung tragen, aber auch dem menschlichen Bedürfnis nach Gemeinschaft, Geselligkeit, Kultur und Genuss entsprechen.

Da es nicht möglich ist, das ganze soziale Leben ­ in den digitalen Raum auszulagern, müssen neue Formen entwickelt werden. Jedes Risiko ausschalten zu wollen, ist eine Illusion. Praktikabel dürfte aber sein, das Risiko kalkulierbar und überschaubar zu gestalten.

Eine distanzierte Gesellschaft

Die wesentliche Änderung, die eintreten wird, ist aber die Transformation in eine distanzierte Gesellschaft. In ihr werden gesellschaftliche und kulturelle Ereignisse nicht mehr dicht gedrängt stattfinden, sondern der Abstandsmaxime folgen. Die Tage der Großraumdiscos und vollen Stadien sind auf absehbare Zeit vorüber, eine Rückkehr zur Normalität vergangener Jahre wird nicht ­passieren.

Andere Formen der Intimität

Jetzt sind innovative Köpfe gefragt, die neue Konzepte entwickeln, bei denen das Bedürfnis nach körperlicher Nähe durch psychische In­timität kompensiert wird. Der empathische Mensch wird sich neue Wege menschlicher Nähe in einem berührungsarmen Raum bahnen. Denn COVID-19 bedingt einen grundlegenden Paradigmenwechsel.

Es wird viel ex­perimentiert werden, bis die »neue Normalität« praktikable Formen angenommen hat. Daran wird schon gearbeitet. Etwa an einer Bestuhlung für Flugzeuge, bei der die Sitze durch Plexiglas getrennt sind. Wie wird man künftig in der Gastronomie essen? In Kojen oder einfach nur mit einigem Abstand? Im Banne des Virus ist jede Entwicklung nur vorläufig, wird adaptiert und adjustiert werden müssen, je nachdem, wie aggressiv das Killerprotein auftritt.

Zeit zum Umdenken

Der positive Aspekt: Die Situ­ation lädt zum Umdenken ein. Die Zeit des »möglichst viel von möglichst allem« und der unbegrenzten Verfügbarkeit von allem und jedem könnte vorüber sein. Jetzt will jede Entscheidung reiflich abgewogen sein und manche Frage neu gestellt werden: Worin besteht gesellschaftlicher Fortschritt? Lässt sich nicht gerade mit reduzierten Ressourcen ein sinnerfüllteres Leben führen? Vielleicht stellt sich einmal he­raus, dass ein heimtückisches Virus die Welt sogar ein Stückchen besser gemacht hat.

Erschienen in
Falstaff Nr. 04/2020

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Joachim Riedl
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