© Gina Müller / Carolineseidler.com

Schlemmen ohne Reue

Um richtig genießen zu können, braucht man Phasen des Verzichts. Vorher und nachher, mitunter auch kurz dazwischen. Über den Wert der Askese in Zeiten üppiger Einladungen.

Wer zu genießen versteht, tut das ohne schlechtes Gewissen, in vollen Zügen. Und das ist gut so! Diese Menschen werden sogar noch belohnt, sie profitieren von guter Laune, Entspannung und gesteigertem Wohlbefinden.

Doch uneingeschränkt zu genießen, fällt nicht allen gleichermaßen leicht. Zu tief sitzen offenbar kollektive Glaubenssätze, egal ob religiöser oder gesundheitlicher Natur, und gesellschaftliche Haltungen, die Genuss tabuisieren und Hemmungen sowie Schuldgefühle befeuern. Wer hat nicht schon »gesündigt«?

In einem solchen Klima kann sich Genusskompetenz nur schwer entwickeln. Dabei geht Genießen über lustvolles Appetitstillen oder gieriges Verschlingen weit hinaus – und mit selbstbestimmtem, autonomem Handeln, geschärfter Wahrnehmung, Selbstfürsorge und bewusster Gestaltung einher. All das ist bei einem Überangebot an Genussreizen relevant, auf das für ein anhaltendes Genusserleben mit zeitweiliger Enthaltsamkeit zu antworten ist.

Denn das einzige Mittel gegen Überdruss ist die bewusste Auszeit – eine Phase der Askese. Sie dient der Vorbereitung ebenso wie der Regeneration, in kürzeren Abständen wie über mehrere Wochen. Askese und Genuss brauchen einander und einen gemeinsamen Rhythmus. Das wird gerade rund um Weihnachten und Neujahr bis zum Fasching und zu Ostern hin deutlich.

© Shutterstock

Schönes bejahen

»Viele Leute, die sich nicht unbedingt falsch oder im Übermaß ernähren, die aber gerne an großen Festessen teilnehmen oder auch gerne große Menüs in Gourmetrestaurants essen, machen sich den Genuss manchmal schwerer als nötig«, schreibt Jürgen Dollase, einer der bekanntesten Restaurantkritiker Deutschlands in seinem Buch zur Völlerei. Er hat das Problem mit den großen Mengen berufsbedingt häufig. Über die Jahre hat er unter anderem einige Tipps gesammelt, wie man leichter mehr essen und genießen kann. Das wollen auch profane Esser immer wieder – besonders rund um die Feiertage. Dabei geht es nicht ums Völlern, aber – so ehrlich darf man sein – doch um üppiges Genießen. Ein Gesamtkunstwerk von guter Gesellschaft und entsprechender Kulinarik hat ja etwas sehr Schönes, Lebensbejahendes, Kraftvolles und -gebendes, etwas Zufriedenstellendes und Versöhnliches. Große Essen mit Freunden und Familie sind besonders und versetzen uns in einen vom Alltag losgelösten Zustand.

© Shutterstock

Vorher verzichten

Um solche Gelegenheiten im wahrsten Sinne des Wortes voll auskosten zu können, lohnt es sich, nicht nur hungrig zu sein, sondern bereits am Tag zuvor einen Schalttag einzulegen. Also bewusst im Vorfeld Platz zu schaffen und nur wenig zu essen. Das ist nicht nur der Menge wegen sinnvoll, sondern steigert auch die sensorische Wahrnehmung. Die Geschmackspapillen gewinnen an Sensitivität.

Zeitweilige und bewusste Enthaltsamkeit ist psychologischen Konzepten zufolge zudem grundlegend, um sich auch seelisch auf den natürlichen Wechsel von guten und schlechten Zeiten einzuschwingen. Ohne Zeiten der Abstinenz ist kein Genuss möglich, ohne Zeiten des Genießens keine Enthaltsamkeit. Es ist ein Kommen und Gehen. Phasen des Verzichts werden also am besten bewusst auch im Vorfeld eingeplant. Im Nachgang wird ohnehin fast von allein einen Gang zurückgeschaltet.

Ein langsamer Start wird bei großen Essen auf der Langstrecke belohnt. Oft werden zu Beginn eine feine Brotauswahl, Butter und Olivenöl kredenzt. Damit sollte man sich freilich nicht gleich satt essen. Langsam »warmtrinken« gilt bei alkoholischen Getränken. Zum einen sättigen sie als wesentlicher Kalorienträger ebenfalls, zum anderen steigern sie den Appetit, sodass dann häufig spätestens vom Käse und Süßen deutlich mehr gegessen wird, als man mitbekommt. Trinken im Schritttempo könnte demnach die Devise sein. Als eine der folgenschwersten Verunglücker von üppigem Genießen aber bezeichnet Restaurantkritiker Dollase die zu langen Pausen zwischen den Gängen. Vergeht etwa eine halbe bis dreiviertel Stunde zwischen den Gängen, dann breitet sich Sattheit aus, der Körper konzentriert sich auf die Verdauung und das weitere Essen wird zur Qual. Anstatt mit größeren Pausen die einzelnen Gerichte flott zu verschlingen, ist es besser, sich auf die Feinheiten eines Gerichts zu konzentrieren, langsam zu essen, und dafür zwischen den Gängen nur kürzere Pausen zu haben.

Nicht immer alles

Kleine Abstriche bei den Portionsgrößen lassen uns größere Menüs und mehrere Feiertage besser bewältigen. Stehen viele Gänge an, sind kleinere Portionen oft bereits in der Planung das Maß der Dinge. Aber auch der Esser kann Vorkehrungen treffen: Je nach Gesamtumfang reicht es, von jedem Gang nur so viel zu essen, bis man das Gericht verstanden hat. Man muss nicht immer aufessen. Auch das fällt leichter, wenn man langsam isst. Die kleine Schwester der Askese ist übrigens die Genügsamkeit: Oft reicht es auch zu wissen, wann es genug ist.

 


NICHTS MEHR VERPASSEN!

Melden Sie sich jetzt für unseren Newsletter an.

Erschienen in
Falstaff Nr. 10/2023

Zum Magazin

Marlies Gruber
Autor
Mehr zum Thema
Rezept
Pineapple Tarts
Sieht fast wie klassische Weihnachtsbäckerei aus, schmeckt aber umwerfend gut nach Urlaub in den...
Von Ethel Hoon, Jakob Zeller