Auch Wetstar Beyoncé interpretierte »Stille Nacht«

Auch Wetstar Beyoncé interpretierte »Stille Nacht«
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Stille Nacht: Von Johnny Cash bis Beyoncé

Ein Song geht um die Welt: »Stille Nacht, heilige Nacht« eroberte von einem kleinen Ort in Salzburg aus die Herzen der Menschen. Warum uns das einfache Lied nach wie vor berührt.

Die Sonne strahlt, die Kulisse könnte nicht kitschiger sein. Ausgerechnet vor einem Märchenschloss in Disneyland tritt US-Pop-Diva ­Beyoncé in einem weißen ärmellosen Kleid auf, um den Weihnachtsklassiker »Silent Night« zum Besten zu geben. Der Kunstschnee sieht extrem künstlich aus, das Setting wirkt in seinem Bemühen, doch ein bisschen Winterstimmung zu zaubern, reichlich traurig. Trotzdem passiert auch diesmal wieder ein Wunder. Beyoncés stimmgewaltige R&B-Version des einfachen, feierlichen Wiegenliedes geht einem zu Herzen: Plötzlich blitzen echte Gefühle im falschen Schnee auf.
Gute Songs erkennt man nicht nur daran, dass es unzählige Coverversionen davon gibt, sondern auch daran, dass sie sogar in den absurdesten Situationen eine gewisse Art von Restwürde bewahren. 15,9 Millionen Einträge finden sich zu den Schlagworten »Silent Night Song« auf YouTube. Trotzdem ist aus »Stille Nacht, heilige Nacht« nie eine beliebige Kaufhausnummer geworden, die man schon im November überall hört und die einem auf die Nerven geht. Eine gewisse Feierlichkeit ist dem Lied nach wie vor eigen, obwohl es unendlich viele Interpretationen gibt. Der deutsche Schlagerstar Helene Fischer hat sich an dem Song ebenso versucht wie die 80er-Jahre-Boyband Bros. Country-Legende ­Johnny Cash hat mit seiner Gitarre dunkle Untertöne in das Lied gebracht, Mädchenschwarm Justin Bieber trällerte es in engelhaftem Falsett, und Sinéad O’Connor überzeugte mit einer minimalistisch-elektronischen Version. Auf keiner Weihnachtskompilation darf eine Version von »Stille Nacht« fehlen. Bing Crosby machte es mit seiner Single – erstmals 1937 aufgenommen – vor: Über 30 Millionen Mal verkaufte sich das Lied und brachte beachtliche Einnahmen.
Davon konnten die Schreiber des Liedes »Stille Nacht«, das 1818 zum ersten Mal in Oberndorf bei Salzburg in der Kirche erklang, freilich nur träumen. Der junge Hilfspriester Joseph Mohr hatte den Text schon zwei Jahre zuvor als Gedicht niedergeschrieben. Später wurde er von dem Lehrer und Komponisten Franz Xaver Gruber vertont. Verdient haben die beiden Freunde daran wahrscheinlich kaum etwas. Mohr verstarb im Advent 1848 in völliger Armut, er war lange auf Wanderschaft gewesen, musste seine Anstellungen regelmäßig wechseln und hatte sich in dem eisigen Klima des Lungau eine chronische Erkältung zugezogen. Komponist Gruber, der noch miterlebte, wie sein Lied auf der ganzen Welt Furore machte, klärte 1854 in seiner »Authentischen Veranlassung« die Entstehungsgeschichte auf und stellte Urheberrechtsfragen klar. Aber das Lied war längst Allgemeingut geworden, von dem vor allem andere gut leben konnten. Der erste Schritt Richtung Welthit führte von Salzburg ins Zillertal, verantwortlich dafür war der Orgelbauer Karl Mauracher, der 1825 auch die Kirchenorgel in Oberndorf herstellte und Gruber kennenlernte. Wahrscheinlich aber war er schon vorher in dem Ort, einen Kostenvoranschlag stellte er bereits im Jänner 1824 aus. Gut möglich also, dass er »Stille Nacht« bereits kannte. Mauracher nahm den Song in seine Heimat mit, wo er schnell Verbreitung fand.

Analog viral gehen

Das Zillertal war damals bitterarm, die Bauern mussten sich im Winter eine zusätzliche Einnahmequelle ausdenken und zogen deshalb auf Weihnachtsmärkte nach Deutschland. Dort standen sie in Tiroler Trachten, verkauften selbst gemachte Handwerksprodukte und sangen beliebte Volkslieder. Eine absurde Situation: Das Weihnachtslied »Stille Nacht« musste herhalten, um den Verkauf anzufeuern. Auf jeden Fall kamen die Musikeinlagen dermaßen gut an, dass es sich als einträglicher erwies, einfach nur zu singen.
Die Geschwister Strasser aus Laimbach und die Familie Rainer aus Fügen gingen als Sängergruppen auf Tournee, nachdem Kaiser Franz I. von Österreich und Zar Alexander I. von Russland im Schloss des Grafen Dönhoff im Zillertal von dem Lied 1822 begeistert waren. Auch ohne Internet sprach sich dieser Erfolg schnell herum, die Sänger wurden von den großen europäischen Herrschaftshäusern eingeladen. Aus dem Kirchenlied war ein Volkslied geworden. 1839 brachen die Rainer-Sänger sogar zu einer Amerikareise auf, am Weihnachtstag 1839 sangen sie – vermutlich erstmals auf amerikanischem Boden – in New York vor dem Alexander Hamilton Memorial am Friedhof der Trinity Church »Stille Nacht, heilige Nacht«. Schriftliche Übersetzungen des Liedes in die englische Sprache gibt es ab der Mitte des 19. Jahrhunderts.

Friede in der Wiege

Die bis heute andauernde Faszination für »Stille Nacht« wird gern mit der Friedensbotschaft, die das Lied verbreitet, in Verbindung gebracht. Entstanden ist es in einer Zeit der massiven politischen Umbrüche und Hungerkrisen. Die Napoleonischen Kriege hatten Europa ausgeblutet, neue Grenzziehungen rissen Gebiete und Familien auseinander. Auch das Erzbistum Salzburg, die ­Heimat von »Stille Nacht«, wurde binnen weniger Jahre von fünf Herrschaftswechseln geprägt, 1818 wütete zudem ein verheerender Brand in der Stadt. Schon damals sprach die Hoffnung, die im Lied steckt, viele Menschen sehr direkt an.
Das sollte sich auch in den folgenden Jahren nicht ändern: Am 24. Dezember 1914 wurde »Stille Nacht« in den Schützengräben an der Westfront von Tausenden Soldaten verschiedener Nationen in ihrer Landessprache gesungen. Die Kriegsweihnachtsnacht ging als »Wunder der ­Verbrüderung« in die Geschichte ein. 1941 stimmten US-Präsident Franklin D. Roosevelt und der britische Premierminister Winston Churchill das Lied auf der Terrasse des Weißen Hauses an. Die religiöse Grundstimmung des Liedes balanciert souverän mit einer allgemeinen menschlichen Sehnsucht nach grenzenlosem Frieden. Sonderlich eitel dürfte der Komponist Franz Xaver Gruber nicht gewesen sein. Seine Melodie war längst berühmt, er selbst aber sprach bloß von einer »einfachen Composition«. Wahrscheinlich ist gerade in dieser Einfachheit ein weiteres Geheimnis des Liedes zu finden. Obwohl ­Gruber am Puls seiner Zeit komponierte: Damals war der sogenannte Siciliano, mit seinem schleppenden, wiegenden Rhythmus ein typisches Hirtenidyll, beliebt. Die Musik von »Stille Nacht« greift die Wiegenliedthematik des Textes kongenial auf, in seiner Harmonie von Form und Inhalt ist das Lied ungemein modern.
Hinzu kommt: Wurde früher beim Gottesdienst meist auf Latein gesungen, so reformierte der aufgeklärte Salzburger Erzbischof ­Hieronymus von Colloredo die Kirchenmusik: Plötzlich wurden auch deutschsprachige Lieder vorgetragen, was sicherlich hilfreich war, um Ohrwürmer zu kreieren.

Überzeugende Paradoxie

Was »Stille Nacht« nach wie vor von anderen Weihnachtsliedern unterscheidet, ist die Feierlichkeit, mit der es gesungen wird, oft gerade von Künstlerinnen und Künstlern, von denen man es nicht erwarten würde. Das bewies niemand schöner als US-Popstar Miley Cyrus, die 2013 in ihrem Musikvideo »Wrecking Ball« nackt auf einer Abrissbirne schwingend ihr Publikum schockte. Aus dem Disney-Liebling war ein aufmüpfiger Teenager geworden. Die Medien und die Eltern waren irritiert. Weihnachten 2015 saß sie dann – in einem zugegeben eher knappen Kleid – auf einem weißen Klavier und sang »Silent Night«. Ganz ohne Show, einfach nur mit Stimme und viel Gefühl.
»Stille Nacht« ist kein Lied, bei dem man mogeln kann. Je einfacher die Interpretation, desto schöner klingt es. Je besser die Stimme, desto berührender die Wirkung. Weniger ist einfach mehr: Gerade diese unterschwellige Botschaft des Liedes ist in unserer eventhungrigen Welt bestechend. Gleichzeitig ist »Stille Nacht« aber auch ziemlich paradox: Man singt lautstark und aus vollem Herzen über die Stille.

Erschienen in
Falstaff Special »Stille Nacht«

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Karin Cerny
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