Amaury Guichon ist der aktuelle Superstar der Patisserie

Amaury Guichon ist der aktuelle Superstar der Patisserie
© Fiona Guichon

Süße Kunst aus Zucker und Schokolade

Patissiers haben sich ins Rampenlicht vorgearbeitet. Aus Zucker, Schokolade – und manchmal auch aus Gemüse – gelingen ihnen ebenso wohlschmeckende wie atemberaubende Kreationen. Falstaff präsentiert die aktuellen Stars der süßen Szene.

Wenn Amaury Guichon erzählen sollte, woraus sein Arbeitsalltag besteht, klänge das zunächst nicht besonders spektakulär: Er baut Dinge. Etwa einen massiven Kompass, wie er auf Schiffen zum Einsatz kommt. Ein Grammophon mit antikem Tisch als Untersatz. Ein Violoncello. Die Bandbreite seiner Handwerkskunst ist enorm. Allerdings hat Guichon nicht 20 Jahre lang studiert und auch nicht verschiedenste Lehrberufe absolviert. Alles, was unter seinen Händen entsteht, kann man essen. Seine Werkstoffe sind Schokolade und Zucker. Weshalb die Gegenstände nicht nur täuschend echt aussehen, sondern auch jeden mit einem Faible fürs Süße verzücken.

© Fiona Guichon

Der Franzose Guichon, 30 Jahre alt,ist der momentan wohl größte Star der Patisserie. Auf Instagram folgen ihm mehr als vier Millionen Menschen, hier postet er fast täglich Zeitraffer-Kurzvideos, in denen er die Herstellung seiner Kreationen dokumentiert. Millionenfach angeschaut und tausendfach kommentiert. 2019 gründete er, mittlerweile in die USA ausgewandert, seine eigene Schule, »The Pastry Academy«, wo talentierte Nachwuchsschüler zehn Wochen lang einen Intensivkurs absolvieren und von Kuchen über Eis und Schokolade bis zu den öffentlichkeitswirksamen Zucker-Nachbildungen alles lernen können. Netflix hat ihm bereits eine Dokumentation gewidmet, die vor wenigen Tagen anlief. 

Soziale Medien als Bühne

Guichon steht für eine neue Generation an Patissiers, die ihre Kunst perfekt in den Sozialen Medien inszenieren. Vorreiter wie der Franzose Pierre Hermé mit seinen Boutiquen, Jordi Roca aus dem »Celler de Can Roca« oder der Deutsche Christian Hümbs lieferten den Grundstein. In hochklassigen Restaurants haben sie sich  neben den Küchenchefs selbst zum vielbeachteten Aushängeschild entwickelt. Gardemangers, Sauciers und weitere Posten einer Küchenbrigade fristen weiterhin ein Schattendasein, doch Patissiers treten immer häufiger selbst ins Rampenlicht. Am Ende eines langen Menüs küssen sie noch einmal die Sinne wach – nicht allein im Geschmack muss eine Dessertkreation überzeugen, auch die Optik spielt eine große Rolle. Letzteres ist ein Grund für den immensen Erfolg von Patissiers in Sozialen Medien wie TikTok oder Instagram, die praktisch ausschließlich visuelle Inhalte kommunizieren. So verwundert es auch nicht, dass insbesondere französische Top-Patissiers oft ein größeres Publikum erreichen als berühmte Küchengenies wie Massimo Bottura oder René Redzepi. Allenfalls prominente TV-Köche wie Jamie Oliver oder Gordon Ramsay können in der Reichweite da noch mithalten. 

Nur echt mit Stern auf der Spitze: ein Tannenbaum aus der Hand von Patissier-Superstar Amaury Guichon. 
© Fiona Guichon
Nur echt mit Stern auf der Spitze: ein Tannenbaum aus der Hand von Patissier-Superstar Amaury Guichon. 

Ähnlich wie die Kollegen am Herd hat auch die Patisserie selbst einen Aufschwung im Fernsehen erlebt. In Deutschland ist vor wenigen Wochen die neunte Staffel der Show »Das große Backen« angelaufen, in Frankreich strahlte das Staatsfernsehen zur Prime Time »Wer wird der nächste Meister-Patissier?« (»Qui sera le prochain grand pâtissier?«) aus – in der übrigens auch Amaury Guichon entdeckt wurde. Und alle Experten, mit denen der Falstaff gesprochen hat, sind sich einig: Die Grande Nation bleibt das einflussreichste Land für die Patisserie. Was nicht besonders überraschend ist – hier wurde die Handwerkskunst in der heutigen Form erfunden.

Die Grundlagen des modernen Patissierhandwerks schuf vor 200 Jahren der in Frankreich bis heute verehrte Marie-Antoine Carême, bekannt als »König der Köche und Koch der Könige«. Carême gilt als einer der Wegbereiter der französischen Hochküche und als erster Patissier der Moderne. Er war für viele prominente Persönlichkeiten im Dienst, darunter als Privatkoch für Frankreichs facettenreichen Außenminister Talleyrand im 19. Jahrhundert, auch zu Napoleons Hochzeit erschuf er das Bankett. Doch er versorgte nicht nur Europas Polit-Elite mit feinster Küche, sondern definierte für das Buch »Le Patissier Royal« auch viele Grundrezepte der Patisserie. Seine Kreationen aus Nougat, Zucker und Marzipan, die er im Schaufenster einer Pariser Konditorei ausstellte, riefen Bewunderung hervor – wie wenig sich daran geändert hat, zeigt bis heute etwa die Wiener Konditorei »Demel« mit ihren opulenten Schaufensterkreationen.  

Werkstoff Marzipan: Die Schaufenster der Wiener Traditions-Konditorei «Demel» sind in Detail und Präzision unübertroffen. 
© K.u.K Hofzuckerbäckerei Demel
Werkstoff Marzipan: Die Schaufenster der Wiener Traditions-Konditorei «Demel» sind in Detail und Präzision unübertroffen. 

Nachspeise oder Kuchen?

In Frankreich und Belgien umfasst Patisserie die gesamte Kunst der süßen Speise, während man sich im deutschsprachigen Raum damit eindeutig auf die süße Abteilung in gehobenen Restaurants bezieht. Feingebäck wie Kuchen und Torten gilt hier selten als Dessert, sondern fällt eher unter die Kategorie »Konditorei«, was insbesondere mit der Ausbildung zusammenhängt. Während es in Frankreich ein eigenes Berufsbild »Patissier / Patissière« gibt, mangelt es in Österreich, Deutschland und der Schweiz daran – meist lernen Patissiers zunächst Konditor und im Anschluss Koch, bevor sie sich im süßen Fach spezialisieren

»Chef Patissiers« verantworten üblicherweise beide Segmente, Konditorei und Patisserie. So ist der mehrfach ausgezeichnete Marco D’Andrea für alle süßen Kreationen im Hamburger Luxushotel »The Fontenay« zuständig, von den Desserts im Sternelokal »Lakeside« bis zu den Törtchen für den beliebten Afternoon Tea. Zentnerweise Zucker, Mehl und Butter verarbeitet er jeden Monat, dazu kommen 150 Liter Obers, ein sattes Kilogramm Vanille und eine vierstellige Zahl an Eiern. Veganer haben es da schwer, oder? – »Natürlich befassen wir uns damit«, sagt D’Andrea, »aber eine Mousse au chocolat mit Obers schmeckt einfach besser.«

Auch Kalorienzähler werden es weiterhin schwer haben, wenn es ums Dessert geht – ein Ende der klassischen Zutaten in der Patisserie ist nicht absehbar. Und doch: »Es kommen ganz viele Nachfragen nach veganen Desserts«, sagt der Elsässer Logan Seibert vom Heidelberger Restaurant »959«, der vor wenigen Wochen auf der Lebensmittel-Messe Anuga als Deutschlands »Patissier des Jahres« ausgezeichnet wurde. Aus Vollmilch wird Hafermilch oder Sojamilch, Butter ersetzt man durch Öle. Gegen Glutenunverträglichkeit behilft man sich mit Reis- und Buchweizenmehl. »So schwer ist das nicht«, sagt Seibert. 

Karfiol im Nachtisch

Seit einigen Jahren sind in der Patisserie der Spitzenküche ohnehin weitere Zutaten hinzugekommen, wie Gourmets wissen. Gegen Mitte der 2010er-Jahre erweiterten führende Köpfe des Handwerks ihr Zutatenspektrum auf Lebensmittel, die man zuvor im Dessert nicht kannte: Plötzlich tauchten Auberginen, Karfiol oder Rote Rüben im Nachtisch auf, flankiert von Petersilie und Topinambur. Zu den Pionieren dieser innovativen Richtung zählt Christian Hümbs, der im Laufe seiner Karriere in einigen zwei- und dreifach besternten Restaurants arbeitete und mittlerweile Chef-Patissier im Zürcher Luxushotel »The Dolder Grand« ist. Seine Aromenmenüs, etwa gegrillte Tomate mit Zartbitterschokolade, Lärche und Sojasauce, polarisierten Feinschmecker – und beeindruckten in ihrer Stimmigkeit.  

Ein Menü nur aus Desserts

Für Hümbs selbst war die Beschäftigung mit Gemüse nicht nur eine Möglichkeit, um weniger Zucker zu verwenden (falls Sie sich gerade wundern: Auch stark reduziertes Gemüse gibt Süße ab). Vor allem stachelte es seine Kreativität an: »Du hast nicht mehr nur eine Farbe auf dem Papier«, sagt Hümbs. Doch im Zürcher Grandhotel widmet er sich inzwischen nicht mehr den hochkomplexen Sterne-Desserts, sondern wieder der französischen Basis: Hümbs kümmert sich um perfekte Croissants, Macarons und Pains au chocolat. Das sei, wie er selbst sagt, schließlich »die Basis für alles andere«. 

Französische Klassik vom Feinsten: Pâte à choux von Weltklasse-Patissier Christian Hümbs im «The Dolder Grand». 
Foto beigestellt
Französische Klassik vom Feinsten: Pâte à choux von Weltklasse-Patissier Christian Hümbs im «The Dolder Grand». 

Die Avantgarde der Dessertkunst treibt indes ein Mann in Berlin voran: René Frank, der zu den wenigen Köchen weltweit gehört, die ein Dessert-Restaurant führen. Vier oder acht Gänge erhält man im »Coda«, nie plump süß, sondern immer in einem komplexen Aromengemenge. Frank verzichtet außerdem auf raffinierten Zucker, macht Schokolade immer selbst und setzt eine Weite an Zutaten ein, die ihresgleichen sucht. Dafür haben er und sein Geschäftspartner Oliver Bischoff zwei Michelin-Sterne bekommen – und das hat vorher noch niemand geschafft. Nur im »Coda« steht zudem ein Eis am Stiel auf der Karte, das Topinambur mit Vanille und Pekannüssen vereint und außen mit zwölf Gramm Kaviar besetzt ist. Das sollte man sich auf der Zunge zergehen lassen.


Sweet Spots

Top-Adressen für Naschkatzen

Room 4 Dessert, Bali
Will Goldfarb zog von New York nach Bali – und bietet in seinem Restaurant ausschließlich komplexe Desserts an.
oom4dessert.com 

Marie SImon, Beaune
Junge Patissière, die schon während ihrer Ausbildung Preise gewann und im Anschluss unter den Top-Leuten Frankreichs arbeitete. Vergangenes Jahr eröffnete sie ihr eigenes Geschäft im Burgund.
marie-simon.com

Coda Dessert Dining, Berlin
Ein zweifach besterntes Restaurant, in dem es ausschließlich Menüs mit komplexen Desserts gibt – das ist höchst ungewöhnlich und weltweit einzigartig.
coda-berlin.com

Celler de Can Roca, Girona
Muss man hierzu noch etwas sagen? Der Drei-Sterner der Roca-Brüder gehört seit Langem zu den besten Restaurants überhaupt, der jüngste Bruder Jordi steht für Weltklasse-Patisserie.
cellercanroca.com

The Fontenay, Hamburg
Mit seinem ringförmigen Dessert ist dem mehrfach ausgezeichneten Marco D‘Andrea ein echtes Markenzeichen gelungen. Er ist auch für den beliebten Afternoon Tea zuständig.
thefontenay.com

Pierre Hermé, Paris
Der Franzose Pierre Hermé war einer der ersten Patissiers, die sich selbst zur Marke machten. Weltweit unterhält er rund 40 Boutiquen, die vom Aufbau Juweliergeschäften ähneln. thefontenay.com

Meinl am Graben, Wien
Mit Josef Haslinger leitet seit mehr als 20 Jahren einer der besten Patissiers Österreichs die Zuckerbäckerwerkstatt dieser Wiener Feinkost-Institution.
meinlamgraben.eu

Demel, Wien
Das Schaufenster dieser traditionsreichen Konditorei ermöglicht einen Blick auf kunstvolle Torten, Kuchen und Skulpturen – nicht nur für die Fächertorte sollte man hier einkehren.
demel.com

The Dolder Grand, Zürich
Christian Hümbs hat mit seinen Aromenmenüs die Grenzen der Patisserie erweitert. Im Dolder konzentriert er sich auf die französische Klassik.
thedoldergrand.com


Erschienen in
Falstaff Nr. 09/2021

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Philipp Elsbrock
Philipp Elsbrock
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