Hand aufs Herz: Wussten Sie, warum man New York auch »The Big Apple« nennt? In den 20er-Jahren des 20. Jahrhunderts waren die zahlreichen Pferderennen in und um New York populär, die Siegerprämien waren die «Big Apples». Erst 1971 wurde dieser Begriff im Rahmen einer Werbekampagne der Stadt aufgegriffen, um Touristen anzulocken. Und seit 1997 trägt die Ecke 54th Strasse und Broadway offiziell die Bezeichnung »Big Apple Corner«. Dabei würde auch die Bezeichnung »The Big Grape« dieser Stadt zur Ehre gereichen. Denn auch wenn es direkt in der Stadt keinen nennenswerten Weinbau gibt, so ist die grosse Weinkultur hier doch gleichsam an jeder Ecke omnipräsent. Da sind unzählige Toprestaurants, die einen unausgesprochenen Wettstreit um die attraktivste Weinkarte führen. Eine junge Generation von Sommeliers, die – anders als so oft in Europa – mit grossem Enthusiasmus, aber ohne Vorurteile oder belehrenden Ton die Gerichte ihrer Chefs önologisch ins Rampenlicht zu setzen wissen. Der glasweise Ausschank von Weinen ist hier sehr beliebt, so kann der Gast sich mit unterschiedlichsten Herkünften, Stilen und Sorten vertraut machen. In New York ist man auch sehr offen für neue Strömungen am internatio­nalen Weinmarkt, was die Weinkarten allerorten beweisen. Und die Wall Street sorgt mit der geballten Finanzkraft ihrer genussaffinen Protagonisten auch für eine Maximierung ­hochpreisiger Icon-Weine.

Da stehen dann auch schon einmal die teuersten Cabernet Sauvignons aus Napa Valley am Tisch oder ein ­Screaming Eagle. Harlan und Co. werden dem zahlungskräftigen Publikum ebenso bereitwillig kredenzt wie die Grands Crus des Burgunds, ein Château Pétrus oder die eine oder andere Flasche Masseto zu einer toskanischen Spezialität in Little Italy. 

Sie suchen die teuersten Weine der Welt? Kein Problem, in New York werden Sie fündig. Sie suchen die neuesten Trends aus wenig bekannten Weinregionen? No problem, auch das bietet New York. Denn hier stehen die Winzer meist gemeinsam mit ihren Händlern förmlich Schlange, um einen Fuss in jene Tür zu stellen, die meist direkt ins internationale Rampenlicht führt. Denn auch für die Weinbranche gilt: »If you can make it there …«

Die Weinbar als Schule

In 40 der 50 US-Bundesstaaten kann man Wein im Supermarkt oder in einer Grocery kaufen. New York zählt nicht dazu. Denn Weine und Spirituosen können hier nur in lizenzierten Geschäften oder direkt auf einem Weingut in New York State wie beispielsweise auf Long Island oder rund um die Finger Lakes (siehe auch Story ab Seite 32) erworben werden. Und nicht zuletzt darf man anders als in weiten Teilen Europas in den USA erst ab dem 21. Lebensjahr Alkohol konsumieren.

Das Netz an zugelassenen Liquor Stores ist eng geknüpft, in Manhattan und zunehmend auch in Brooklyn gibt es eine enorme Zahl an Weinhandlungen. Viele dieser Anbieter führen eine breite Palette von preiswerten Alltagsweinen, andere sind auf Weinstile oder Regionen spezialisiert. Neben den klassischen Still- und Schaumweinen spielen hier auch Natural Wines und Orange Wines eine Rolle.

Für viele Weinnovizen sind die unkomplizierten Wine Bars, die oft an eine Weinhandlung gekoppelt sind, der ideale Ausgangspunkt, um sich mit den vielen Facetten des Rebensafts anzufreunden. Nicht zuletzt ist es ein Stück weit auch eine Frage des Lifestyles, sich mit Weingenuss zu befassen. Dadurch ist eine grosse Bandbreite an Lokalen entstanden, die sich mit unter-schiedlichen Ansätzen an ihr Publikum richten. Mancher Inhaber einer Weinbar ist in New York in der Kulinarikszene genauso bekannt wie die Küchenchefs der Spitzengastronomie. Der wohl einflussreichste dieser önologischen Baristas ist der in Toronto geborene Paul Grieco, der sich wie niemand sonst der Sorte Riesling verschrieben hat. Er gründete 2008 die Weinbar »Terroir« im East Village, die sich sehr rasch zu einer Institution unter Weinfreunden entwickelte. Seine »Summer of Riesling«-Events sind längst legendär. Er legt sich mächtig ins Zeug, den Interessierten zu erklären, dass es sich bei Riesling nicht notwendigerweise immer um süsse Weine handelt. Und präsentiert in seiner Weinbar die besten Winzer aus Deutschland, Österreich, dem Elsass und dem Rest der Welt. Im »Terroir« werden zudem feine, kleine Gerichte serviert und ständig wechselnde Flight-­Verkostungen »by the glass« angeboten, kurzum: »Terroir« ist der richtige Ort, um in die Welt der New Yorker Weinlokale einzutauchen.

Für Weinfreunde, die sich nach Midtown verirrt haben – vielleicht um einmal den Times Square zu sehen oder eine der Shows am Broadway zu besuchen –, ist die »Aldo Sohm Wine Bar« eine rettende Oase. Der gebürtige Österreicher ist hauptamtlich Wine Director in Eric Riperts Drei-Sterne-Tempel »Le Bernardin« und bietet bei seiner Zweitbeschäftigung in eleganter Wohnzimmeratmosphäre eine ständig wechselnde Weinauswahl von 40 Pro­dukten glasweise sowie rund 200 Flaschen­weine an. »Die Regeln hier sind simpel – weil es eben keine gibt«, so die Philosophie des Gastgebers. Kleine, unkomplizierte Gerichte komplettieren das Angebot.

Zu den allerbesten Wine Bars in der Stadt zählt die »Compagnie«, mit vollem Namen »Compagnie des Vins Surnaturels«. Das Angebot ist voller Highlights aus der gesamten Weinwelt, das Personal zeigt echte »personality«, und zu späterer Stunde versammelt sich hier alles aus dem Weinbusiness, was gerade in der Stadt ist. Originell ist das glasweise Mystery-­Angebot in Weiss und Rot. Die Ansage: »Guess the wine and win the bottle!« In der Lower East Side hat Sommelier Grant Reynolds seine »Parcelle Wine Bar« – eigentlich mehr Lounge als Bar – ­zu einem Treffpunkt von Weinenthusiasten gemacht. Seine Liste ist lang, bietet zahl­reiche ungewöhnliche Positionen und ist sehr breit gefächert. Man bekommt auch Flaschen unter 60 Dollar, aber Vorsicht: Es gibt hier Trophy-Weine im vierstelligen Bereich, in die man sich verlieben kann.

Restaurants mit Weinsinn

In keiner anderen Stadt werden so viele Restaurants neu eröffnet und genauso schnell wieder geschlossen wie in New York. Da sind Bestenlisten so eine Sache. Aber es gibt sie natürlich in den unterschiedlichsten Rubriken. Für diesen Artikel haben wir mehrere Top-Ten-Listen erstellt, die allesamt subjektiv sind und das aktuelle Geschehen aus dem Blickwinkel von Weinliebhabern betrachten. Wir haben die Brancheninsider vor Ort um ihre Meinung gebeten und diese sorgfältig eingearbeitet. Jeder, der die New Yorker Gastroszene etwas kennt, hat seine Favoriten.

Wir haben daher auch auf eine gewisse Vielfalt und Ausgewogenheit geachtet. Denn guter Wein ist gerade in New York nicht billig und vermutlich nicht jeder Falstaff-Leser ein Millionär. Uns hat an den ausgewählten Restaurants primär das Weinangebot interessiert, die Art und Weise, wie man dort mit dem Wein umgeht, wie originell die Karte zusammengestellt ist. In einem Drei-Sterne-Haus darf man ein Topweinprogramm und service erwarten, nicht nur eine Anhäufung von Prestigeflaschen, die von einem näselnden Sommelier mit französischem Akzent appliziert werden. 

Zunächst ein Blick an die Spitze: 70 Adressen in der Stadt haben einen Michelin-Stern, fünf haben sogar drei. Und zwei der Lokale sind auch in Sachen Wein absolute Weltklasse: der viel besungene Schweizer Daniel Humm im »Eleven Madison Park« und der grandiose Eric Ripert im »Le Bernardin«. In beiden Fällen ist man gut beraten, die Weinkarten vorher online zu studieren. Sie umfassen jeweils mehr als 200 eng beschriebene Seiten. Wenn man damit erst im Lokal beginnt, schafft man es bestenfalls bis zu den Champagnern, bevor das Dessert kommt … Im »Eleven Madison Park« stehen dem Wine Director Gabriel Di Bella nicht weniger als neun tolle Sommelièren und Sommeliers zur Seite.

Im »Le Bernardin« wird der Weinfreund von Wine Director Aldo Sohm und dem Team um Chef-­Sommelière Barbara Wong verwöhnt. Der ­Österreicher Sohm war bereits 2007 bester Sommelier Amerikas und wurde im Jahr darauf zum weltbesten Sommelier gekürt. Eddy Leroux ist der Herr am Herd im stylishen Restaurant von Daniel Boulud. Hier weht der Wind auf elegante französische Weise und Head Sommelier Chris Dooley versteht sein Handwerk perfekt.

Brooklyn ist angesagt

Wer Manhattan von der anderen Seite des East Rivers aus in Augenschein nehmen will, muss auf Spitzenweine aber ebenfalls nicht verzichten. Im Gegenteil, Brooklyn entwickelt sich immer mehr zum Hotspot für trendige Weinbars. Das Tempo ist hier etwas gedrosselt, alles fühlbar entspannter. Aber auch hier fällt es schwer, sich auf eine Handvoll Empfehlungen zu beschränken. Die »Red Hook Tavern« ist ein Klassiker für Weinfreaks. »The Four Horsemen« in Williamsburg ist Restaurant und Weinbar, bietet tolles saisonales Essen und erstklassige Musik. Und ja, den Kern der Weinkarte von Justin Chearno bilden Natural Wines. Die Auswahl ist gekonnt und zeigt einmal mehr, dass mit dieser Art von Wein genauso viel möglich ist wie mit den althergebrachten Methoden der Vinifizierung. So macht Weingenuss wirklich Spaß – cheers!

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