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Das Essen vor dem Essen: Tapas

Frittierte Artischocken, gebratene Jakobsmuscheln, geschmorte Kalmare – und das ist erst der Anfang vom Festmahl. Die Welt wäre eine bessere, wenn wir mehr Tapas essen würden. Ein Plädoyer für den häppchenweise geteilten Genuss.

Es ist nie gut, mit einem Bärenhunger essen zu gehen. Wer erst noch Instinkte befriedigen muss, kann nicht geniessen, und es ist ewig schade um die Vorspeise, wenn sie bloss achtlos und gierig verschlungen wird. Ganz abgesehen davon:  Zum richtig guten Essen gehört richtig gute Gesellschaft, und was soll die bitte denken, wenn sie sich mit einer Laune rumschlagen muss, die in der englischen Sprache so treffend als «hangry» beschrieben wird?

Kleine Happen ganz gross

In vielen grossen kulinarischen Kulturen gibt es daher stets schon vor dem Essen was zum Essen. Bereits im alten Rom wurden vor dem eigentlichen Essen so genannte «Gustatii», also Appetitanreger, serviert. Heute treffen sich Italiener zum Aperitivo – Italo-Happen inklusive –, Japaner knabbern vergnügt «Otsumami», (wörtlich «Happen zum Bier») und Chinesen snacken sowieso die ganze Zeit. Niemand aber hat das Vor-Essen so kultiviert und auf solche kulinarischen Höhen gehoben wie die Spanier mit ihren Tapas. Es gehört zu den grössten kulinarischen Freuden dieser Welt, sich durch Barcelonas Bodegas, Madrids Tabernas oder die Pinxos Bars in San Sebastiáns engen Hafengassen zu kosten, hier eine gegrillte Schwert­muschel, da eine gebratene Artischocke, dort scharfe Schnecken zu probieren, und dazu fast schon beschämend günstigen, aber völlig ausreichend guten Wein zu schlürfen.

Tapas (und ihre internationale Verwandtschaft) mögen historisch vielleicht als kleine Häppchen zum (Nachmittags-)Wein begonnen haben – mittlerweile machen sie aber der Hauptmahlzeit Konkurrenz. In Spanien gehören Tapas-Restaurants daher auch zu den berühmtesten und bestbesuchten des Landes, von Klassikern wie der «Bodega della Ardosa» bis hin zu modernen Versionen wie dem «Tickets» und der «Bodega 1900», die beiden Tempel der Tapaskunst der Gebrüder Ferran und Albert Adria. Dass viele lieber gleich nur Tapas essen, ist wenig verwunderlich – sind sie doch eine der besten Arten zu essen überhaupt.

Beherzt zugreifen

Das beginnt schon mit der Präsentation: Oft stehen sie in ihrer ganzen Pracht an oder neben der Bar, wie reife, köstliche Früchte, die nur gepflückt werden wollen. Statt mit Besteck darf man hier gerne beherzt mit den Fingern zugreifen, und die schlanken Portionen  erlösen einen (fast) von der Qual der Wahl: Man kann hier gebratene Kalmare knuspern, in fleischige Jakobsmuscheln beißen, frittierte Paprika, «Jamón Ibérico», «Manchego» und «Bacalao» geniessen, und das bei einem einzigen Essen. Anders als bei anderen Gerichten, reissen Tapas nicht alle Aufmerksamkeit an sich – sie schaffen es, herrlich zu schmecken, ohne sich ganz in den Mittelpunkt drängen zu müssen. Sie bringen Gespräche nicht zum Verstummen, sondern liefern Energie zum Geschichtenerzählen, ebenso wie für stundenlange Diskussionen, oder für Lachanfälle bzw. auch ein Smalltalkthema beim ersten Date. In Tapas Bars, so gut --sie auch sein mögen, geht es stets nur ein bisschen ums Essen, und ganz viel ums Zusammensein.

Weil fast alles ohnehin kühl bis lauwarm genossen wird und ständig etwas nachkommt, können Esser ganz entspannt hier und dort einen Bissen nehmen, einen Schluck Wein trinken; oder sich einfach die Finger lecken, kurz zurücklehnen, -entspannen, und das Treiben an den Nachbartischen beobachten – zu sehen gibt es nämlich stets genug.

Hier treffen sich Pensionisten und Studenten, Familien, junge Pärchen, alte und neue Freunde, Einheimische und Touristen, und alle haben sie eine unglaublich gute Zeit – oft zusammen, weil sie sich ohnehin einen der viel zu wenigen, viel zu kleinen Tische teilen oder so eng an der Bar stehen, dass sie im Grunde gar nicht anders können, als sich kennenzulernen.  Zumindest, wenn gerade nicht Corona ist. Das Treiben hier ist so herzerfrischend gemeinschaftlich und generationsübergreifend, dass man spätestens nach ein paar Gläsern und Häppchen überzeugt ist: die Welt wäre eine bessere, wenn nur mehr Menschen Tapas essen gehen würden.

Weltweiter Siegeszug

Zum Glück tun sie genau das. Zwar macht nicht gerade an jeder Ecke eine Tapas-Bar auf, die Art wie in ihnen gegessen wird, hat sich aber in den vergangenen Jahren ziemlich rasch und weit verbreitet. Kleine Teller, Essen zum Teilen, ohne Besteck, dafür mit den Fingern, und am besten ganz viel gleichzeitig, statt einzelne Gänge hintereinander, ist gerade in vielen Lokalen Standard.

Ob diese Entwicklung auf den enorm wachsenden kulinarischen Einfluss Asiens auf den Westen zurückzuführen ist und nicht auf die Vorbildwirkung Spaniens, oder wer dazu wie viel und was beigetragen hat, ist eine akademische Frage und für freudige Esser relativ egal – solange die «Tapas-isierung» der Welt weitergeht!


Erschienen in
Falstaff Nr. 04/2022

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Tobias Müller
Autor
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