Wiesners Element ist das Feuer, deswegen kocht er auch – wann immer möglich – draussen auf dem Feuerring.

Wiesners Element ist das Feuer, deswegen kocht er auch – wann immer möglich – draussen auf dem Feuerring.
© Andreas Reichlin

Stefan Wiesner: Alchemist der Naturküche

Mit seiner Naturküche gehört Stefan Wiesner zu den bekanntesten Köchen der Schweiz. Dahinter stecken Talent und eine schier unersättliche Neugier, aber auch eine gehörige Portion Mut zum Eigensinn. All das ist seit vergangenem Jahr in seinem Restaurant «Mysterion» zu erleben.

Wer den innovativsten Koch der Schweiz besuchen möchte, muss etwas vorausplanen. Stefan Wiesners Restaurant «Mysterion» im Hotel «Weitsicht» liegt abseits des Trubels in der Biosphäre Entlebuch im Schweizer Kanton Luzern. Hier gibt es nur Mittagessen, und das nur von Mittwoch bis Samstag. So haben Wiesners Angestellte angenehme Arbeitszeiten, und die Gäste kommen in den Genuss der spektakulären Aussicht auf die Hügellandschaft und die dahinter liegenden Alpen. Wer kein Auto hat, nimmt in Luzern den Zug nach Entlebuch. Von dort werden die Gäste auf Abmachung am Bahnhof abgeholt. Manchmal wartet Wiesner selbst auf sie, manchmal ist es aber Armin Knubel, der einen Chauffeurhut trägt, sich als Hausgeist vorstellt und einem auf der Fahrt im alten Mercedes-Transporter innerhalb einer Viertelstunde die Geschichte der Region erzählt.

In Bramboden angekommen – das aus dem «Weitsicht», ein paar Bauernhöfen und einer kleinen Wallfahrtskirche besteht – sagt er: «Auch heute kommen noch viele Wallfahrer her. Halt einfach nicht mehr wegen der Kirche».  Sie kommen, um Wiesners Zauber zu ­erleben: ein neungängiges GourmetMenu, das keinem anderen auf der Welt gleicht. Wiesner verkocht ganze Bäume oder räuchert Schnee. Sein jetziges Menu ist der Bauhaus-Architektur gewidmet.

Zu eng, zu vorbelastet

Fast ein Jahr ist es her, dass Wiesner von seinem Heimatdorf Escholzmatt nach Bramboden gezogen ist. Nur wenige Kilometer trennen die zwei Orte, für ihn sind es aber Welten. In seinem vorherigen Restaurant, dem «Rössli» im Escholzmatter Dorfzen­trum, war er schon lange nicht mehr glücklich. Zu eng war es ihm im Dorf, vielleicht war der Ort auch zu sehr vorbelastet. Denn bereits seine Eltern leiteten den Gasthof. Wiesner musste schon als Kind in der Küche aushelfen und Kartoffeln schälen. Um der Arbeit zu entfliehen, baute er eine Hütte im Wald und zog durch die Entlebucher Täler.

Eigentlich wäre er gern Künstler geworden, Tischler oder vielleicht Bäcker. Die Eltern waren allerdings nicht einverstanden, also fügte er sich seinem Schicksal und machte eine Kochlehre im Luzerner Hotel «Gütsch». 1984 kehrte er nach Escholzmatt zurück, übernahm fünf Jahre später mit seiner Frau Monica den elterlichen Gasthof – und blieb 34 Jahre lang. Während dieser Zeit verwandelte Wiesner sich vom Wirt zum Gastro­sophen, Alchemisten und Naturkoch.

Der Mut zum Eigenen

Das «Rössli» war eine Beiz mit bodenstän­diger Schweizer Küche. Die Wiesners ­versuchten anfangs, es allen recht zu machen und gingen fast daran zugrunde. Bis heute findet Stefan Wiesner, dass es eine Unsitte sei, dass man in den meisten Schweizer Beizen nach dem Essen gefragt wird, ob es «recht» war. «Stattdessen sollte man fragen, ob es gut war, oder ‹Hattet ihr einen schönen Abend?›», stellt Wiesner fest.

Im «Rössli» lief es lange nicht gut; als Ausweg begann Wiesner, sich neu zu orientieren und Naturelemente in seine Gerichte einzubauen. Er sammelte Pilze, Pflanzen und Moose, vermischte in den alten Köhlereien der Region hergestellte Holzkohle mit Senf, stach Torf und räucherte selbst gemachte Wurst damit. Sein Mut zahlte sich aus: Mit der Zeit sprach sich herum, dass im Entlebuch jemand etwas ganz Neues machte. 2005 drehte der Schweizer Regisseur Eric Bergkraut den Dokumentarfilm «Der Hexer aus dem Entlebuch» über ihn. 2008 folgte ein Michelin-Stern, den er bis heute hält.

Wiesner kocht, um zu verstehen. Wenn ihn etwas interessiert, liest er sich ins Thema ein und entwickelt dazu ein Menu. So verbindet er Einflüsse aus Kunst, Kultur, Natur, Architektur, Philosophie, Alchemie und Mystik mit Kulinarik. «Ich habe auch schon Patrick Süskinds Geschichte ‹Das Parfum› gekocht oder ein Menu nach Paracelsus’ Lehren zusammengestellt.» Konkret arbeitet Wiesner nicht nur mit gängigen Zutaten aus der Region, sondern auch mit Materialien wie Steinen, Teer, Holz, Flechten und Kohle, die er zu ­Pulvern verarbeitet oder destilliert.

Die Entwicklung eines Menus dauert rund drei Monate, meistens serviert er es während eines Monats, manchmal länger. Mittlerweile beschränkt Wiesner sich auf wenige Zutaten, die er in verschiedenen Texturen und Aggregatzuständen präsentiert – er nennt es mono­typische Küche. Sein Element ist das Feuer, am liebsten kocht er auf dem Feuerring, einem Grill, der einer grossen Metallschale gleicht. In der Mitte lodern die Flammen, auf dem breiten Rand werden die Zutaten gegart. Vor sechs Jahren entdeckte er den in der Schweiz hergestellten Feuerring, mittlerweile besitzt er acht davon und kann sich sein Restaurant nicht mehr ohne ­vorstellen. Ab diesem Frühling möchte er nur noch draussen auf dem Feuer kochen.

Wiesner kocht, um zu verstehen. Wenn ihn etwas interessiert, dann liest er sich ins Thema ein und entwickelt dazu ein Menu.

Prophet im eigenen Land

Der Name «Mysterion» kommt aus dem Altgriechischen, auf Deutsch übersetzt: «das Allwissende» oder «Göttliche». Wiesner möchte nicht nur Leute verpflegen, er bietet auch Kurse, Seminare und Praktika an. Eigentlich wollte er eine Hochschule gründen, um sein Wissen an die nächste Generation weiterzugeben. Die Schule stand kurz vor der Eröffnung, Wiesner bekam aber keine Bewilligung, da sich verschiedene nationale Verbände querstellten. Zur Gründung eines privaten Instituts fehlte das Geld, also musste er seinen Plan aufgeben. «Die Schweizer geben dem Essen zu wenig Wert. Wäre ich woanders oder später geboren, wäre ­vielleicht alles anders», sagt er.

Stattdessen lädt er nun Menschen aus aller Welt ein, im Rahmen eines Internships bei ihm hinter die Kulissen zu schauen. Gegen Bezahlung lernen sie, nach seiner Philosophie zu kochen, zu backen, Zutaten zu sammeln und zu verarbeiten. Dass er sein Institut nicht gründen durfte, war ein herber Rückschlag. Ebenfalls stimmt ihn traurig, dass er niemanden gefunden hat, der sein Restaurant übernehmen will: «Noch vier Jahre will ich arbeiten. Dann sehen wir, wie es weitergeht», sagt der 62-Jährige. Es ist ihm anzumerken, dass er es leid ist, sich erklären zu müssen – und trotzdem missverstanden zu werden. «Dass ich seit dem Film als Hexer bekannt bin, ist auch etwas ungünstig. Die Leute denken sowieso schon, dass ich ein Spinner bin.»

Wiesner geht es nahe, wenn er nicht ernst genommen wird. Er freut sich umso mehr, wenn er Zuspruch erhält: «Ich war vor Kurzem bei der Verleihung der Schweizer Michelin-Sterne, bei der mir viele junge Leute gesagt haben, dass ich ihr Vorbild bin. Das war unglaublich schön!» Ein Lächeln zieht über sein Gesicht, plötzlich sieht er 20 Jahre jünger aus. Ganz hat er die Hoffnung wohl noch nicht aufgegeben, dass seine Philosophie nach ihm weiterlebt.

Wiesners «Mysterion».
© Ramona Duss
Wiesners «Mysterion».

Zu Gast im «Mysterion»

Stefan Wiesners Restaurant befindet sich im Hotel «Weitsicht» mitten in der ruhigen Natur der Biosphäre Entlebuch. Es bietet drei gastronomische Konzepte: Der «Weitsicht-Treff» ist täglich geöffnet, hier bedienen sich die Gäste selbst. Das viergängige «Werkstatt-Menu» wird wie auch das Gourmet-Menu «Wiesner-Zauber» von Mittwoch bis Samstagmittag angeboten. Wer Wiesners Kreativität erleben möchte, sollte unbedingt Letzteres buchen (ca. 260 Euro). Es startet immer um 11.30 Uhr und besteht aus neun Gängen, die sich nach einem bestimmten Thema richten – bis Mitte April wird das «Bauhaus-Menu» serviert, in dem Wiesner mit verschiedenen Baumaterialien kocht. Der Chef ist dabei immer selbst vor Ort, um den Gästen die Hintergründe zu erklären. Es lohnt sich, das «Rundum-sorglos-Paket» für rund 550 Euro zu buchen und danach im Hotel zu übernachten. Abends dürfen die Gäste Würste auf der Terrasse braten, am nächsten Morgen kocht Wiesner ein exzellentes Frühstück auf dem Feuerring.

Mysterion
Brambode 6, 6167 Bramboden
T: +41 41 4861241, wiesner-mysterion.ch

 


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Erschienen in
Falstaff Nr. 02/2024

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Larissa Graf
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Von Marcus Philipp