Schweine sind neugierig, kreativ, listig und haben einen hoch entwickelten Sinn für räumliche Orientierung.

Schweine sind neugierig, kreativ, listig und haben einen hoch entwickelten Sinn für räumliche Orientierung.
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Schweine auf der Bühne – und an der Macht

Intelligent, neugierig, kreativ: Schweine waren dem Menschen schon immer sehr ähnlich, doch erst seit etwa 250 Jahren nehmen wir diese Züge auch bewusst wahr. Und wir legen diese den Tieren auch prompt zu ihrem Nachteil aus.

Im Zeitalter der Aufklärung wurden menschliche Genies bewundert, zunehmend aber auch intelligente Tiere. Noch vor Pferden oder Hunden betraten Schweine die Bühne. Samuel Bisset, ein schottischer Schuster, hatte beispielsweise ein Ferkel so unermüdlich trainiert, dass es im August 1783 seinen ersten Auftritt absolvieren durfte. Das Tier konnte anscheinend Rechenaufgaben lösen, die Uhrzeit angeben und bestimmte Wörter an Schautafeln anzeigen. Im Februar 1785 berichtete eine Londoner Zeitung über die »wundersame Kreatur«, der selbst »die kritischsten Geister« attestierten, dass »weder die Zunge des begabtesten Redners noch die Feder des genialsten Schreibers« den Auftritt dieses klugen Tiers angemessen beschreiben können. Wenig später bevölkerten zahlreiche Schweine-Stars die Zirkus- und Varieté-Bühnen in Europa und Nordamerika. Zur Jahrhundertwende eroberte das Schwein William Frederick Pinchbecks die Herzen des Publikums in den Städten von Neuengland, während der britische Illusionist Nicholas Hoare mit seinem Schwein Toby ganz London faszinierte. Im Jahr 1817 veröffentlichte Hoare eine Autobiographie Tobys; darin gab Toby Auskunft über die möglichen Ursprünge seiner Begabung: Seine Mutter habe einmal die Bibliothek ihres Besitzers betreten und dabei die hinter Glasscheiben stehenden Buchreihen aufmerksam betrachtet, als wollte sie die einzelnen Titel studieren.

Intelligent und kreativ

Tatsächlich sind Schweine außerordentlich intelligent; ihre kognitiven Kapazitäten wurden schon mit denen von Primaten oder Delfinen verglichen. Schweine sind neugierig, kreativ, listig und haben einen hoch entwickelten Sinn für räumliche Orientierung. Der Verhaltensforscher Lyall Watson zitiert in diesem Zusammenhang eine Mitteilung von Gilbert White, der eine Sau aus Hampshire beobachtete: »Wenn sie Gelegenheit suchte, sich mit einem Eber zu treffen, pflegte sie alle hinderlichen Tore zu öffnen, ging allein zu einem entfernten Hof, wo ein Eber gehalten wurde, und sobald der Zweck ihres Besuchs erfüllt war, wanderte sie auf demselben Weg wieder zurück nach Hause.« Noch erstaunlicher wirkt ein Bericht von Sir Walter Gilbey – der Gentleman-Farmer bezeugte einen Umgang der Schweine nicht nur mit Raum, sondern auch mit Zeit und Kausalität. Er hatte nämlich eine intelligente Sau im Alter von etwa einem Jahr gesehen, die in einen Obstgarten lief, zu einem Apfelbaum, den sie schüttelte, während sie ihre Ohren spitzte, um zu hören, ob die Äpfel herunterfielen. Danach sammelte sie die Äpfel auf, um sie zu fressen. Zuletzt schüttelte sie den Baum noch einmal, horchte erneut, und erst, wenn keine Äpfel mehr herunterfielen, ging sie fort.

Doch Intelligenz wird oft auch mit Bosheit assoziiert, nicht bloß bei Menschen, sondern auch bei Tieren. Zum Kriegsende 1945 – zugleich dem Jahr der ersten Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki – veröffentlichte George Orwell seinen Roman »Animal Farm«. Die Fabel erzählt vom Aufstand der Tiere auf einer Farm, die den stets betrunkenen Bauern Jones vertreiben und die Macht ergreifen. Sie erlassen sieben Gebote, die in weißen Buchstaben auf die schwarz geteerte Wand geschrieben werden. Diese besagen, dass alle Zweibeiner Feinde sind, während alle Vierbeiner oder geflügelten Lebewesen als Freunde betrachtet werden sollen. Kein Vierbeiner soll Kleider tragen, in einem Bett schlafen oder Alkohol trinken. Alle Tiere sind gleich, daher soll kein Tier ein anderes Tier töten. Aber die Gruppe der Tiere bleibt nicht homogen. Am Ende übernehmen die Schweine die Macht; und an der Wand steht nur noch ein einziges Gebot, das lautet: Alle Tiere sind gleich, aber manche sind gleicher. Danach beaufsichtigen die Schweine die Arbeiten auf der Farm und tragen Peitschen. Sie kaufen Radios und Zeitungen, rauchen Pfeife und präsentieren sich in Kleidern.

Fühlen wie wir?

Orwells Roman wurde zumeist als Parabel für die Geschichte der Sowjetunion gelesen. Old Major, der alte weiße Eber, der nach einem Traum die Revolte predigt, aber bald danach stirbt, soll Karl Marx und Lenin in Personalunion repräsentieren, der Berkshire-Eber Napoleon Stalin, und der weiße Eber Snowball Leo Trotzki. Das kleine, dicke und rhetorisch begabte Schwein Squealer – in der deutschen Fassung »Schwatzwutz« genannt – soll Molotow verkörpern, während Hitler mit Mr. Frederick, dem raffinierten, geldgierigen Besitzer einer anderen Farm, assoziiert wird. Dieser Mr. Frederick macht anfangs Geschäfte mit der Farm der Tiere; danach greift er sie an und versucht sie zu vernichten. Der Esel Benjamin vertritt den skeptischen Intellektuellen, der Rabe Moses die russisch-orthodoxe Kirche. Ob diese Lesarten alle stimmen, ist vermutlich unwichtig; immerhin kaufte die CIA nach dem Tod Orwells am 21. Januar 1950 die Filmrechte, um den Stoff für antikommunistische Propaganda nutzen zu können. 1954 kam »Die Farm der Tiere« als Zeichentrickfilm in die Kinos. Nur der Schluss wurde geändert: Im Film propagieren die Schweine eine »animalische Weltrevolution«, die auf jedem Bauernhof die Schweine an die Macht bringen soll, während die anderen Tiere immer mehr hungern und arbeiten müssen. Zuletzt beginnen daher die unterdrückten Tiere eine neue Revolution gegen die Herrschaft der Schweine. Orwell hatte dagegen seine Fabel mit pessimistischen Tönen abgeschlossen: Die Schweine sind da nicht besser als die Menschen, sie lassen sich nicht mehr unterscheiden. Der letzte Satz des Romans lautet: »Die Tiere draußen blickten von Schwein zu Mensch und von Mensch zu Schwein, und dann wieder von Schwein zu Mensch; doch war es bereits unmöglich zu sagen, wer was war.«

Erschienen in
Falstaff Nr. 01/2023

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Thomas Macho
Thomas Macho
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