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Marco Müller: »Die erste Artischocke hat mich unfassbar glücklich gemacht«

Der Küchenchef des einzigen Drei-Sterne-Lokals in Berlin war vor Kurzem zu Gast in Wien. Falstaff hat ihn im »Steirereck« zum Interview getroffen und mit ihm über die Gemeinsamkeiten der beiden Metropolen, sein Regionalitätskonzept und wo in Sachen Nachhaltigkeit Nachholbedarf herrscht sowie über seine Vision für die gehobene Gastronomie der Zukunft gesprochen.

Mit seiner Idee der nachhaltigen Regionalküche, die er in seinem Restaurant auf die Spitze treibt, hat Marco Müller das »RUTZ« zu einem kulinarischen Hotspot in Berlin und auch darüber hinaus gemacht. Falstaff hat den geschäftsführenden Küchenchef des ersten und einzigen Berliner Restaurants mit drei Michelin-Sternen im »Steirereck« in Wien zum Interview getroffen.

Ihre Lehrzeit haben Sie in der DDR begonnen, jetzt sind Sie Executive Chef des ersten und einzigen Berliner Restaurants mit drei Sternen. Haben Sie immer schon von der großen Karriere geträumt? War diese zumindest in gedanklicher Reichweite?

Von Sternen habe ich wahrscheinlich während der DDR-Zeit gar nichts gewusst. Als ich meinen Beruf erlernt habe, stand wirklich die Passion im Vordergrund, aus großartigen Produkten einfach Gerichte zu formen. Später kam dann der Wunsch, wahnsinnig spannende Gerichte zu kreieren.

Rückblickend stelle ich fest, dass der Anfang unfassbar romantisch war, ebenso wie der Gedanke daran, wie ich eigentlich zum Kochen gekommen bin. Ich glaube, die drei Sterne sind entstanden, weil ich eine unendliche Leidenschaft entwickelt habe.

Wie war das Gefühl nach dem Mauerfall, als Sie plötzlich mit einer Vielfalt an Produkten konfrontiert waren?

Das war für mich unfassbar aufregend. Ich muss ehrlich sagen, dass der Ausbildungsbeginn in der DDR wenig spannend war und eher recht einfach. Das hat für mich aber absolut gereicht, denn genau ein Jahr später ist die Mauer gefallen und ich konnte mit einem super Grundfundament in die Zukunft starten.

Auf der einen Seite waren die Produkte, mit denen ich vorher gearbeitet habe, unfassbar hochwertig. Also bis auf Fleisch, das konnten wir damals in der DDR überhaupt nicht gut zubereiten. Aber die Gemüse und das Obst und alles das, was es gab, das war sehr ursprünglich und sehr hochwertig. Aber das Spannende war eigentlich, den Blick auf die Küche, die dann auf mich zukam, zu richten. Es hat sich eine riesengroße Welt an Dingen, Gewürzen und anderen exotischen Zutaten eröffnet, die ich mir vorher gar nicht erträumen konnte.

War das dann der große Kick, noch weiter in die Materie einzutauchen?

Ja, es war so ein unfassbarer Ansporn, den ich ergriffen habe und den ich auch heute noch habe, diese Welt kennenzulernen, für mich zu annektieren und zu verstehen. Ich habe auch die ersten zwei, drei Jahre erstmal nichts anderes gemacht, als mich durch Bücher zu kämpfen und Sachen auszuprobieren, also erstmal alles »durchzukochen« um so auf ein Grundfundament zu kommen. Erst danach habe ich Sachen für mich angenommen, die ich spannend fand – und alle anderen beiseite gelassen.

Erinnern Sie sich noch an einen besonders prägenden Moment zurück, ein Aha-Erlebnis?

Ach, da gab es einige, beispielsweise Produkte wie eine Artischocke. Die erste Artischocke, die ich verarbeitet habe, hat mich einfach unfassbar glücklich gemacht. Aber halt auch so einfache Dinge, wie die Vielfalt der Kräuter, die wir gar nicht hatten, die Vielfalt von Zitrusfrüchten, das ist unfassbar. Wir hatten Orangen, Zitronen, Mandarinen, was ja schon mal gar nicht so wenig ist, aber die Welt, die da auf mich zukam, war ein riesengroßer »Spielplatz«.

Heute sind Sie einer der großen Vorreiter im Bereich Regionalität und Nachhaltigkeit. Wie sehen Sie da allgemein den Status quo in Deutschland?

Ich glaube, man muss Regionalität wirklich ganz kleinteilig nach der Region einordnen. Das, was wir machen, möchte ich eigentlich gar nicht mehr unbedingt als regional bezeichnen, weil meine Region eine andere ist als die in Baden-Württemberg, als die in Bayern und auch schon gar als die in Österreich.

Was macht Österreich so speziell?

Ich glaube, dass in Österreich eine gewisse Esskultur schon immer eine große Rolle gespielt hat, auch gerade diese ländliche, bäuerliche Küche. Die ist, glaube ich, aus Österreich nicht wegzudenken und auch die ganzen großartigen Mehlspeisen. Das für mich Spannende, was hier in Österreich passiert, ist, auch gerade so wie hier im »Steirereck«, auch eine fundamentale Wurzel dafür, dass vor dem traditionellen Hintergrund die modernen Blickwinkel, die Küche so aufregend machen.

Und das machen wir in Berlin genauso: wir versuchen das, was wir haben zu nutzen. Die Aromenwurzeln sind etwas knapper bestellt als in Österreich, aber die Produkte sind relativ identisch.

Gibt es auch Bereiche, in denen Nachholbedarf herrscht?

Ja, das sind einige. Generell ist der Nachholbedarf an diesem regionalen Gedanken noch unfassbar groß. Ich glaube der Zugriff auf internationale Küchen und Produkte spielt in Deutschland immer noch eine größere Rolle als die eigenen Produkte und die eigenen Aromen.

Aber wir befinden uns gerade im Wandel, ein generelles Bewusstsein ist im Entstehen, das wir natürlich unterstützen und fördern, da dieses in einer Region wie Berlin gerade auch durch uns mit ins Leben gerufen wurde.

Eine der Maßnahmen ist auch, dass Sie ganz konkret mit Bauern, mit Fischereien und anderen Betrieben zusammenarbeiten, um deren Produkte zu verbessern. Wie kann man sich das operativ vorstellen?

Wir beziehen fast 80 Prozent ausschließlich von eigenen Produzenten. Der Grundgedanke hier ist eigentlich, dass wir, wenn wir zeigen wollen, was unsere Region kann, die besten Produkte brauchen. Und dadurch, dass wir auch in den Anfängen gar nicht den Zugriff auf die besten Produkte hatten, weil wir nur absolut durchschnittliche Produkte im Handel bekommen haben und die besten Produkte aus Frankreich, Griechenland, Spanien, Portugal kamen, haben wir gesagt, da müssen wir was tun.

Der erste Schritt war, dass ich mich mit meinem Team hingesetzt habe und wir gemeinsam Bauern gesucht haben, die für unser Vorhaben geeignet erschienen.

Nach welchen Kriterien gehen Sie da vor?

Am Beispiel einer Karotte: Karotte ist ja nicht Karotte, das ist ein Oberbegriff, das ist ja sozusagen die Familie. Also haben wir unterschiedliche Karottensorten, darunter auch ganz alte, als Saatgut geholt, haben einfach mal geschaut, welcher Bauer beziehungsweise welcher Boden welches Ergebnis hervorbringt.

So haben wir es dann auch mit den anderen Produkten wie Fisch, Fleisch, und Obst gemacht. Aber dann, das ist das Schwierige, wenn wir jemanden gefunden haben, der uns wirklich eine sensationelle Karotte angebaut hat, muss diese jetzt nach Berlin reinkommen. Dazu haben wir Strukturen entwickelt, dass die Landwirte sich zusammenschließen oder wir die Sachen abholen lassen, damit wir jeden Tag frische Ware bekommen.

Mittlerweile sind wir auch sehr stark im Wald verwurzelt und haben einen »eigenen Jäger« – das war ein ganz, ganz spannender Entwicklungsprozess.

Auch der Wein fällt nicht aus Ihrem Regionalitätskonzept. Denken Sie, dass dem deutschen Wein allgemein mehr Wertschätzung gebührt?

Das hat einen Riesensprung gemacht. In unseren Anfängen vor rund 25 Jahren, als die »RUTZ Weinbar« ihren Anfang nahm, gab es keine große Wertschätzung für deutschen Wein. Also wir haben halt Franzosen getrunken, wir haben Italiener getrunken und diese vollkommen überfruchteten kalifornischen Weine boomten.

Jetzt sieht die Lage ganz anders aus, es gab einen gigantischen Sprung. Deutschland hat eine Bandbreite von Region zu Region und die Winzer machen eine dynamische Entwicklung durch

Wenn ein Gast zu Ihnen essen geht, was erwartet er sich?

Was erwarte ich von meinem Gast? Im Grunde genommen erwarte ich von meinem Gast Neugier, Offenheit. Und ich freue mich über jeden Gast, der sich von unserer Welt sozusagen einfangen lässt. Wir sehen das auch bei uns im Restaurant, das ist wie unser Wohnzimmer. Die Mitarbeiter, die bei uns arbeiten, die sind alle schon längere Zeit da und leben unsere Idee gleichermaßen mit Stolz. Kurz gesagt: Wir verbringen also einen Abend mit unseren Gästen und hoffen, dass ihnen das genauso gut gefällt wie uns.

Was ist Ihre Vision für die gehobene Gastronomie in den nächsten 25 Jahren? Und wo sehen Sie sich dabei?

Ich wünsche mir, dass der regionale Gedanke weiter Fuß fasst und dass es immer noch mehr junge Köche (m/w/d) gibt. Es ist die heutige Generation, die sich ja aussuchen kann, ob sie Französisch oder deutsch kochen möchte.

Es ist aktuell alles möglich: Ich kann ja auch mit den Produkten aus der Region internationale Küche zelebrieren. Das ist auch schon mal ein Riesenschritt. Ich hoffe, dass sich das weiterentwickelt und wir nicht in zwanzig Jahren darauf angewiesen sind, dass uns irgendein Flieger Carabineros bringt, sondern dass wir unsere eigenen Sachen nutzen und auch weiterverarbeiten.

Ich möchte festhalten, dass es kein Trend ist, diesen Weg zu gehen, sondern dass das eine Entwicklung ist, die gerade stattfindet.

Wir werden weiterhin konsequent an diesem Ansatz festhalten, da unsere Philosophie nicht nur darauf abzielt, regionale Produkte zu verwenden, sondern auch darauf, die Einzigartigkeit unserer Region zu erkunden. Wenn wir beispielsweise in die Wälder unseres Heimatgebiets eintauchen, nutzen wir eine breite Palette von Nadelbäumen wie Kiefer, Fichte, Wacholder und sogar Lerche in unseren Gerichten. Diese Bäume zeichnen sich durch ihre unterschiedliche Harzstruktur aus und verleihen den Speisen ein vielfältiges Aromen Spektrum. Es ist äußerst faszinierend, die kulinarischen Möglichkeiten zu erkunden, die in unserer Region oft übersehen wurden.

Julia Emma Weninger
Julia Emma Weninger
Chefredakteurin Online
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