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Inseln der Hundertjährigen: Warum in Japan die Lebenserwartung so hoch ist

Rund um den Globus werden Menschen zunehmend älter. In Japan ist der Anteil der Hundertjährigen weltweit am höchsten – und er steigt sukzessive an. Was läuft dort anders und welche Faktoren fördern ein langes und gesundes Leben?

Tomiko Itooka ist 115 Jahre alt. Die Frau ist damit der derzeit älteste Mensch in Japan, im ­globalen Ranking liegt sie damit auf Platz zwei hinter der ­Spanierin Maria Branyas, die ihr um ein Jahr voraus ist. Weil Frauen im Durchschnitt älter werden als Männer, dominieren sie auch die Liste der am längsten lebenden oder jemals gelebt habenden Personen.

Unter den aktuell top 50 der Hundert­jährigen finden sich 16 Japanerinnen und nur ein Mann – aus Venezuela. Mit über 90.000 Hundertjährigen bei 126 Millionen Einwohnern hat Japan nicht nur die höchste Dichte an »Methusalems«, auch die aktu­elle Lebenserwartung bei der Geburt liegt mit 84 Jahren über dem OECD-Durchschnitt, allerdings nur um drei Jahre (und gleich hoch wie in der Schweiz).

Ein Hotspot der Langlebigkeit soll ­Okinawa sein, die südlichste Präfektur Japans. Die Inselgruppe zählt zu den fünf Regionen auf der Erde, wo Menschen einige Jahre länger leben als der Rest, und dies auch noch ohne wesentliche zivilisatorische Gesundheitsprobleme wie Adipositas, Krebs, Diabetes oder Herzerkrankungen. Zu den weiteren »Blue Zones« zählen Sardinien, das griechische Ikaria, die Nicoya-Halbinsel in Costa Rica und die Siebenten-Tags-Adventisten in Loma Linda östlich von Los Angeles.

Schenkt man der Liste der bekannten ältesten Japaner auf Wikipedia Glauben, so gibt es in allen Präfekturen Menschen, die über 110 Jahre alt werden, und nur jeder zehnte kommt aus Okinawa. Die von den Forschern rund um Dan Buettner beschriebenen Faktoren für die »Zonen der Lang­lebigkeit« scheinen also in Japan auch in den Norden hin weit verbreitet zu sein. Diese lassen sich in vier Kategorien einteilen.

Immer aktiv

Erstens: die Bewegung – mäßig, aber regelmäßig. Die ältesten Menschen sind nicht unbedingt für Triathlon oder Weltcup-Siege bekannt, sie leben vielmehr in einer Umgebung, die sie stetig etwas in Schwung hält. Sie gehen zu Fuß, bewirtschaften einen kleinen Garten, erledigen Hausarbeit. Sie haben schlicht einen bewegten Alltag.

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Sinn und Entschleunigung

Zweitens: die mentale Konstitution – seinem Leben einen Sinn geben und mit Stress gut umgehen lernen. »Ikigai« nennen die Menschen in Okinawa »den Plan fürs Leben«. Sie wissen, warum sie in der Früh aufstehen. Zudem haben die am längsten lebenden Menschen Routinen, um Stress abzubauen. Während sie in Griechenland eine Siesta einlegen, machen sie auf Sardinien Happy Hour, und auf Okinawa gedenken sie für einige Momente ihrer Vorfahren. Distress zu entkommen, hilft, chronischen Entzündungen vorzubeugen, die bei fast allen altersabhängigen Zivilisationskrankheiten beteiligt sind. 

Familie und Freundeskreis

Drittens: ein festes soziales Netzwerk pflegen – sich um die Familie kümmern und im gesellschaftlichen Leben engagieren, gegebenenfalls auch spirituelle, religiöse Verbundenheit erleben. Jene auf Okinawa haben ihre »Moais«. Das ist ein Freundeskreis von etwa fünf Personen, die sich einander fürs Leben »committen«. Sie geben einander nicht nur Rückhalt und Kraft in schwierigen Zeiten, sie beeinflussen sich gegenseitig im Lebensstil und formen gemeinsam lebensbejahende, der Gesundheit zuträgliche Verhaltensmuster. Die Devise: fröhlich bleiben und den Leuten, die einem nicht liegen, soweit es möglich ist, aus dem Weg gehen. 

Die 80-Prozent-Regel

Viertens: die Ernährung – traditionelle Essgewohnheiten mit einem hohen Anteil an Gemüse und vor allem Hülsenfrüchten. Ob Bohnen, Linsen oder Erbsen als Snack, Salat, Misosuppe, Tofu oder Tempeh – Hülsenfrüchte bilden eine fixe Grundlage der täglichen Kost. Sie sind kostengünstig, sättigend, blutzucker- und blutfettspiegelregulierend und liefern – vor allem in Kombination mit Getreide – hochwertiges Eiweiß. Ihr hoher Anteil an resistenter Stärke wird erst im Dickdarm von Darmbakterien zu kurzkettigen Fettsäuren verstoffwechselt. Diese fördern die Darmgesundheit und hemmen chronische Entzündungsprozesse, die mit gastrointestinalen Problemen ebenso verbunden sind wie mit Übergewicht und Diabetes Typ 2. Fleisch, vor allem Schweinefleisch, landet dagegen nur etwa einmal pro Woche auf den Tellern.

Regionale Vielfalt steht im Vordergrund, etwa Algen, Papaya oder Goya, eine Bittermelone, genauso wie Fisch. Zudem folgen die Menschen auf Okinawa dem konfuzianischen Mantra »Hara hachi bu«. Sie hören demnach auf zu essen, wenn ihr Magen zu etwa 80 Prozent voll ist. Übersetzt könnte man sagen: Wenn man das Gefühl hat, es hätte noch ein Dessert Platz, dann ist es ein guter Zeitpunkt für den letzten Bissen. Diese regelmäßigen 20 Prozent Einsparung sind für das Halten eines gesunden Körpergewichts durchaus entscheidend. Dass es einen lebensverlängernden Effekt hat, die Nahrungsenergie in Zaum zu halten, weiß man ebenso von Studien mit Fadenwürmern, mit denen auch das Intervallfasten getestet wurde. Dazu passt, dass die am längsten lebenden Menschen tendenziell früh zu Abend essen und dann nicht zu viel. Moderat ist auch das Stichwort für den Alkoholgenuss: regelmäßig, aber in kleineren Mengen, zum Essen und/oder mit Freunden.


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Erschienen in
Falstaff Nr. 02/2024

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Marlies Gruber
Autor
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