Michele Conceprio, Direktor des Weinguts Vinattieri Ticino.

Michele Conceprio, Direktor des Weinguts Vinattieri Ticino.
© Vinattieri Ticino

Neue Eleganz: Warum Tessiner Merlot so erfolgreich ist

Der Tessiner Merlot hat sich über die Jahrzehnte hinweg immer weiterentwickelt. In den letzten Jahren wurden die Weine zusehends eleganter und die Qualität stieg nochmals an. Zu verdanken ist dies mitunter dem Erfolg des weiss gekelterten Merlot Bianco. Paradox? In keiner Weise!

Merlot ist die zweitwichtigste rote Rebsorte der Schweiz. Insgesamt 1'235 Hektar Rebfläche waren im Jahr 2022 mit der Bordelaiser Sorte bestockt. 891 davon im Tessin, was rund 72 Prozent der gesamten Schweizer Merlot-Fläche entspricht. In keiner anderen Region hierzulande spielt die Sorte eine grössere Rolle als im Tessin. Ganz anders ist es beim Pinot Noir, der wichtigsten roten Rebsorte des Landes, die sich auf keine Region beschränkt, sondern in allen Anbauregionen eine Rolle spielt.

Es verwundert demnach auch nicht, dass rund die Hälfte der 60 Merlots, die zur dies­jährigen Falstaff Merlot Trophy eingereicht wurden, aus dem Tessin stammt. Der Merlot und das Tessin, das ist eine wahre Erfolgsgeschichte, denn der Kanton im Süden der Schweiz ist das Nonplusultra, wenn es in der Schweiz um die Bordelaiser Sorte geht. Nicht nur wegen der reinen Menge, die hier produziert wird – 80 Prozent des Kantons sind mit Merlot bestockt – sondern vor allem, was die Weinqualität angeht. Diesen Eindruck bestätigte auch die Falstaff-Trophy, bei der im absoluten Spitzenbereich ab 92 Punkten fast ausnahmslos Weine aus dem Tessin zu finden waren.

Ins Tessin kam der Merlot Anfang des 20. Jahrhunderts. Zuvor hatten Rebkrankheiten und die Reblaus die Tessiner Reblandschaft verwüstet. Von den ursprünglichen 8'000 Hektar Rebfläche des Kantons waren Ende des 18. Jahrhunderts nur noch etwa 1200 übrig. Wie überall sonst auf der Welt lag die Lösung im Kampf gegen die Reblaus in amerikanischen Unterlagsreben, die resistent gegen den Schädling sind, und in der Aufpfropfung europäischer Edelsorten. Die ersten Merlot-Stöcke brachte Alderige Fantuzzi, später Leiter des Istituto agrario cantonale di Mezzana, in die Region und kelterte im Jahr 1906 den ersten Wein daraus. Die Ergebnisse waren vielversprechend und legten den Grundstein für den Erfolg der Sorte, der bis heute anhält.

Eine der wichtigsten Stilrevolutionen erlebte der Tessiner Merlot in den 1980ern, als Einwanderer aus der Deutschschweiz wie Werner Stucky oder Daniel Huber etwa begannen, sich bei der Vinifizierung am Bordeaux zu orientieren, die Maischegärung verlängerten und die Weine im Barriquefass ausbauten. Das Tessin erfindet sich aber immer wieder neu – in den letzten Jahren scheint gar eine ganz neue weitere ­Revolution im Gang zu sein.

Weisser Merlot

«In den letzten 30 Jahren ist die Qualität der Merlots aus dem Tessin immens gestiegen», stellt Michele Conceprio fest. Der Direktor des Weinguts Vinattieri führt dies unter anderem darauf zurück, dass mittlerweile nur noch Toptrauben für die roten Merlot-Gewächse verwendet und die schlechteren Qualitäten sofort gepresst und zu Merlot Bianco weiterverarbeitet werden. Ganze 30 Prozent der Tessiner Merlot-Ernte werden inzwischen weiss vinifiziert. Eine Entwicklung, die Sinn macht, denn nicht jede Lage im zerstückelten Tessin kann Trauben hervorbringen, die für absolute Top-Rotweine geeignet sind. Die Trauben für den ­Vinattieri Rosso stammen aus einer absoluten Toplage. Mit dem 2018er Jahrgang des Weines heimste das Weingut nicht nur den Titel für den «besten Merlot» im Falstaff Weinguide 2023/24 ein, sondern liess mit demselben Wein auch die Konkurrenz bei der diesjährigen Merlot ­Trophy hinter sich.

Das Flaggschiff des Hauses wird seit 1985 produziert und stammt seit jeher aus derselben zwei Hektar grossen, terrassierten Parzelle, die sich zwischen Rancate und Besazio befindet. Der Lagen-Merlot aus dem Hause ­Vinattieri braucht aufgrund der natürlichen ­Konzentration der Trauben einige Jahre, bis er sich zugänglich präsentiert. Deshalb bringt das Weingut den Wein erst vier Jahre nach der Ernte auf den Markt – wenn er sich harmonisiert und geöffnet hat. Besonders in den letzten zehn Jahren stellt Conceprio eine weitere Entwicklung fest: Im Gegensatz zu den 1990ern beispielsweise werden die Jahrgangsunterschiede immer geringer. Als Grund hierfür nennt er die immer wärmeren Temperaturen im Tessin, die dafür sorgen, dass die Merlot-Trauben immer besser ausreifen. «Wir haben heute die Reife und die Struktur, dass wir ohne Weiteres mit Merlots aus dem Bordelais mithalten können», stellt Conceprio fest.

Frische und Filigranität

Trotz höherer Temperaturen werden die Top-Merlots aus dem Tessin aber ­keineswegs fetter und alkoholreicher, im Gegenteil: Sie scheinen immer eleganter und filigraner zu werden, wenn man die Falstaff-Verkostungen der letzten Jahre betrachtet. Auch der Holzeinsatz wird in den letzten Jahren immer dezenter oder gekonnter. Ein Wein, der sich bei der diesjährigen Trophy ganz besonders filigran und elegant präsentierte, war der Scala von Kopp von der Crone Visini aus dem Jahrgang 2021. Ein durchaus schwieriges Jahr im Tessin, das bei vielen Winzern wegen hohem Krankheitsdruck für Probleme sorgte, wie Paolo Visini berichtet. Er und seine Partnerin Anna Barbara von der ­Crone kamen jedoch mit einem blauen Auge davon. Besonders am Scala aus dem Jahr 2021 ist zudem, dass er als reiner Merlot abgefüllt wurde, während andere Jahrgänge immer einen kleinen Anteil Petit Verdot und Cabernet Sauvignon beinhaltet haben. «Der Jahrgang 2021 unterstreicht unser Streben nach Eleganz und Finesse ganz besonders, finde ich», sagt Anna Barbara von der Crone. Eine Philosophie, die das Paar schon lange verfolgt und die es in den letzten Jahren immer weiter schärfte. «Seit ein paar Jahren wird ein Teil der Merlot-Trauben bei uns kalt mazeriert. Das bringt unserer Erfahrung nach sehr viel Frische in die Weine», berichtet Paolo Visini. Ein Verfahren, das Visini und von der Crone auch beim Scala anwenden, dessen Trauben auf einem leicht lehmigen Sandboden gedeihen, der sehr durchlässig ist, was für weitere ­Frische und Mineralität im Wein sorgt.

Sacha Pelossis Merlot Lamone Reserva aus dem Jahr 2021, der ebenfalls auf dem Siegertreppchen der Falstaff-Trophy landete, gedeiht auch auf sandigem Boden. Ein perfekter Boden für die Rebsorte Merlot, wie Pelossi feststellt, da er wegen seiner Durchlässigkeit schneller erwärmt und sich somit die physiologische Reife der Trauben verkürzt. Die etwa 1,7 Hektar grosse Parzelle, auf der die Trauben wachsen, befindet sich im namensgebenden Dorf Lamone, wo Pelossi selbst wohnt. Pelossis Merlot-Gewächse gehören mit zum Elegantesten, was man im Tessin finden kann. Und das hat seinen Grund. «Ich liebe Weine mit grossem Trinkfluss», lässt der Weinmacher wissen. Und deshalb sollen seine Kunden kein zweites Glas trinken, sondern gleich eine zweite Flasche öffnen. Konzentration durch Saftabzug oder den Zusatz getrockneter Trauben findet bei ihm nicht statt. Pelossi will eben Trinkfluss, und hier spielen ihm auch die klimatischen Bedingungen in der Region in die Hände, die im Tessin für die Rebsorte optimal zu sein scheinen. «Ich habe viele Kollegen im Wallis, die Merlot anbauen. Die Weine dort werden aber nicht so elegant wie hier, sind konzentriert und haben viel Alkohol. Alkoholgrade über 14 Volumenprozent sind für mich nicht die Lösung für Merlot», betont Pelossi. Merlot ist eben ein waschechter Tessiner und die neue Stilrevolution steht ihm.

ZUR MERLOT TROPHY SCHWEIZ 2024 


Nichts mehr verpassen!

Melden Sie sich jetzt für unseren Newsletter an.

Erschienen in
Falstaff Nr. 01/2024

Zum Magazin

Dominik Vombach
Dominik Vombach
Chefredaktion Schweiz
Mehr zum Thema
sour
Gold Minga
Am 22. Februar ist der »Tag der Weißwurst«. Als ob das noch nicht genug Grund zum Frohlocken...
Von Reinhard Pohorec
Alkohol
Barrel Aged Negroni
Die aromatische Veredelung des Drinks kann auch durch eine mehrwöchige Lagerung in einem kleinen...
Von Alexander Thürer
Cocktail
White Negroni
Eine moderne Weiterentwicklung des Klassikers, die nicht nur die Farbe, sondern auch das...
Von Alexander Thürer
Tessin
Tessin: Das Land des Merlot
Vergleicht man die sechs Weinregionen der Schweiz anhand der Grösse der Rebflächen, so belegt das...
Von Benjamin Herzog