Die Burgruine Neipperg steht über einem der emblematischen Weinberge Württembergs: dem Neipperger Schlossberg.

Die Burgruine Neipperg steht über einem der emblematischen Weinberge Württembergs: dem Neipperger Schlossberg.
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Weinbaugebiet Württemberg: Ein Rundgang

Die letzten 20 Jahre waren im Weinbaugebiet Württemberg eine einzige qualitative Revolution. Trotzdem ist jenseits der Gebietsgrenze der Ruf
nach wie vor eher verhalten. Woran liegt’s nur?

Achtung, liebe Leser, der Text, den Sie hier zu lesen beginnen, wird immer wieder am Rande des Plagiats entlanggehen. Er tut das mit Absicht, denn er möchte Ihnen ein deutsches Weinbaugebiet nahebringen, das noch immer als unsexy gilt, obwohl es eine absolut spektakuläre Qualitätsdynamik aufweist. Daher haben wir uns für diese Einführung in den Württemberger Wein ein Buch aus den Sechzigerjahren zum Vorbild genommen, das eine besonders liebevolle Annäherung an die Schwaben ist: »Deutschland, Deine Schwaben« von Thaddäus Troll. Auch des gleichnamigen fünfteiligen Fernsehfilms, dem wir in seiner höchst eigenständigen Mischung aus Heimatfernsehen und Monty Python’s Flying Circus einen festen Platz in der Geschichte des Fernsehens vorhersagen, wenn man in ein paar Jahrzehnten auf dieses untergegangene Medium zurück­blicken wird, haben wir uns bei unseren Schwabenstudien bedient. Die Versuchs­anordnung wird nun sein, ob sich die dort geschilderten Erkenntnisse auf die Welt des Weins übertragen lassen. Auch die nachfolgenden Überschriften stammen alle aus Buch oder Film, und wir möchten es nicht versäumen, beide zur vertiefenden Beschäftigung mit dem Thema zu empfehlen.

Terrassenweinberge wie hier bei der Cannstatter Genossenschaft Weinfactum sind nur in mühsamer Handarbeit zu bewirtschaften. Rechts: Lemberger-Lese beim Weingut Drautz-Able in Heilbronn.
© Weinfactum
Terrassenweinberge wie hier bei der Cannstatter Genossenschaft Weinfactum sind nur in mühsamer Handarbeit zu bewirtschaften. Rechts: Lemberger-Lese beim Weingut Drautz-Able in Heilbronn.

Das Ländle

Ländle – so nennen die Schwaben ihre Heimat. Vermutlich ist es die Absicht dieses Diminutivs, sich selbst und die eigene Bedeutung kleinzureden. Sich kleiner zu machen, kann Vorteile haben: Man weckt keine Begehrlichkeiten. Vielleicht bleibt es einem sogar erspart, dass man die flüssigen Früchte des Landes mit anderen teilen, sie möglicherweise gar exportieren muss, nach Karlsruhe beispielsweise oder nach Bochum. Eine Ausnahme wäre vielleicht Berlin – denn dort leben so viele Schwaben, dass die Bundeshauptstadt schon fast als eingemeindet gilt, Neukölln weniger, aber der Prenzlauer Berg auf jeden Fall.

De facto ist Württembergs Weinbau alles andere als klein: Mit mehr als 11.300 Hektar ist Württemberg das viertgrößte der 13 Anbaugebiete Deutschlands. Die vom Allmächtigen geschaffene und in Jahrhunderten von Wengertern vervollkommnete »Musterkollektion an Landschaften« (Troll) umfasst Weinbergslagen von flach über sanft geschwungen bis halsbrecherisch steil, sie bedient sich eines großen (Neckar) und eines halben Dutzends kleinerer Flüsse (Rems, Enz, Bottwar, Kocher, Jagst, Tauber), um das Grün der Reben mit dem Blau des Wassers in Kontrast zu setzen. Die Standortvorteile, von denen Schwabens Reben profitieren, sind vielfältig. Von einem Weinberg aus, dem Untertürkheimer Herzogenberg, kann man sogar Bundesligafußball betrachten, momentan sogar ziemlich guten, wenn man einen Feldstecher dabei und der VfB gerade ein Heimspiel hat.

@ Stefanie Hilgarth / carolineseidler.com

Schaffe, schaffe

Die Tüchtigkeit der Schwaben ist sprichwörtlich. Für den Weinbau ist sie Fluch und Segen zugleich. Ein Segen ist sie, weil die vielen Steillagen, die nur in mühsamer Handarbeit zu bewirtschaften sind, ohne den Einsatz Tausender von Feierabendwinzern kaum zu halten wären und fast unweigerlich brachfallen und verbuschen würden. Die durchschnittliche Betriebsgröße liegt in Württemberg laut Drucksache 16/7013 des Landtags von Baden-Württemberg bei 1,34 Hektar (2018). Dieser Durchschnittswert inkludiert selbstredend alle 20- und 50-Hektar-Weingüter. Von den 8.450 erfassten Betrieben dürften zwei Drittel oder mehr ein klitzekleines Fitzelchen Land von vielleicht 15 oder 20 Ar bewirtschaften – ein Drittel oder gar Viertel eines Fußballfelds. Die Rechnung ist schnell gemacht: Ohne Genossenschaften gäbe es all diese Kleinstbetriebe längst nicht mehr, und der Weinbau Württembergs hätte ein anderes, ein ärmeres Gesicht.

Der Fleiß der Schwaben ist aber auch ein Fluch für den Weinbau. Warum, lässt sich aus den Vergleichszahlen von 1999 erkennen: Damals gab es in Württemberg noch 16.503 aktive Wengerter mit einer Durchschnittsfläche von 0,68 Hektar. In den letzten 20 Jahren hat sich die Zahl der aktiven Winzer halbiert. Und auch daran ist das schwäbische Arbeitsethos schuld: Denn die Industrie von Daimler über Porsche bis zu Bosch und IBM ist dank des Erfindungsreichtums und der Schaffenskraft der Schwaben wirtschaftlich so erfolgreich und bezahlt so hohe Löhne, dass sich nur noch die größten Idealisten abends nach 19 Uhr in den Weinberg stellen. Aus monetären Gründen macht es ganz bestimmt niemand mehr. Ha no!

Dialektisches Denken

Georg Wilhelm Friedrich Hegel, der Begründer der dialektischen Philosophie, wurde am 27. August 1770 in Stuttgart geboren und durchlief das Tübinger Stift, wo er zeitweise eine Stube mit Hölderlin und Schelling teilte. Man könnte nun fast annehmen, dass Hegels philosophischer Weg durch seine Herkunft vorgezeichnet war, dass ihm das dialektische Denken durch seine Muttersprache in die Wiege gelegt wurde. Denn das Schwäbische hat eine nicht wegzudiskutierende Vorliebe dafür, in Redensarten konträre Terme in eins zu fassen. Man könnte geradezu sagen, dass das Schwäbische dazu neigt, Widersprüchen eine Richtung zu geben. Eine Aufforderung, sich zu bewegen, fasst der Schwabe beispielsweise in die Worte: »komm, gang!«. Er verwendet das Wort »neileere« (leeren!), um den Vorgang des Einfüllens zu bezeichnen. Gerne sagt er auch, wenn er noch schnell etwas erledigen muss und sein Gegenüber um Geduld bitten möchte: »wart’ gschwind!«.

Nun könnte man sich fragen, ob auch ein Württemberger Weinklassiker früherer Tage wie der »Trollinger mit Lemberger« in diese Kategorie von Ausdrücken fällt: als eine Art hölzernes Eisen von Wein, das weder die Kraft des Lembergers noch die Saftigkeit des Trollingers besaß und dennoch durch irgendeine verschlungene Dialektik der Wein-Alchemie häufig ein stimmiges, zumindest süffiges Getränk war. Oder soll man den Neckarsulmer Rebenzüchter August Herold anführen, der 1928 tatsächlich die Stirn hatte, den roten Trollinger mit weißem Riesling zu kreuzen? Das Ergebnis war eine Weißweintraube, deren würzige Weine unter dem Namen »Kerner« doch immerhin einen gewissen Ruf erlangten.

Ganz sicher aber ist die Neigung des Schwaben zur Vermählung von Gegensätzen nicht unschuldig daran, dass Württemberg heute dasjenige deutsche Anbaugebiet ist, in dem sich die Winzer mit dem größten Fleiß dem Austüfteln von Cuvées widmen. Wer etwa Lemberger mit den französischen Trauben Cabernet Franc und Syrah vermählt oder als Antithese zu den diversen Cabernet-Spielarten Spätburgunder verwendet, steht fest auf dem Boden der schwäbischen Dialektik-Tradition. Dagegen scheint es uns, Lokalpatriotismus hin oder her, fast etwas weniger schwäbisch zu denken, wer nur die diversen Weinsberger Züchtungen der Siebzigerjahre (Cabernet Dorsa, Cabernet Mitos, Acolon und so weiter) miteinander cuvetiert. Da die alle vorrangig auf Farbe und Gerbstoff gezüchtet waren, kommt im Glas manchmal nur wenig Spiel auf. So isch’s no au wieder.

Die größte deutsche Kleinstadt

Stuttgart besitzt heute 60 Stadtteile, die fast alle einen dörflichen Ursprung besitzen. Das Bäuerliche war (und ist?) fest verankert, erst im Jahr 1862 wurde es in Stuttgart verboten, Schweine vor dem Haus auf der Straße zu schlachten. Heute stehen in Stuttgart dreimal mehr Rebstöcke, als die Stadt Einwohner hat: 430 Hektar des Stadtgebiets dienen dem Weinbau – diese Fläche wird im Kreis der europäischen Großstädte nur von Wien getoppt. Auch wenn die eingemeindeten Orte Bad Cannstatt, Untertürkheim, Uhlbach und Rotenberg den Löwenanteil der Rebfläche beitragen: Weinberge gibt es auch im Stadtzentrum, selbst von der Bahnhofsbaustelle aus blickt man auf einen Rebberg. Gepflegt werden einige der Innenstadtlagen vom Weingut der Stadt Stuttgart, das im Gegensatz zu vielen anderen Weingütern der öffentlichen Hand bislang nicht privatisiert wurde. Und die Stadt scheint gut damit zu fahren, denn der Betrieb hat sich in den letzten Jahren als Hort der Dynamik erwiesen, zuletzt wurde er sogar Mitglied beim Verband Bioland und hat auf Öko-Bewirtschaftung umgestellt. Rund zwei Dutzend weitere Weingüter und fünf Genossenschaften sind ebenfalls auf dem Stadtgebiet tätig.

Das Licht unter den Scheffel stellen

Im erwähnten Buch von Thaddäus Troll schreibt der Autor im Kapitel über den schwäbischen Wein: »Noch zu meines Großvaters Zeiten war das kleinste Maß, dass man in der Wirtschaft bestellen konnte, ein Schoppen, wie man in Württemberg den halben Liter nannte.« »Zu meines Großvaters Zeiten«, und das 1967 gesagt – das scheint auf eine sehr weit zurückliegende Vergangenheit zurückzugehen. Doch vielleicht ist uns die einstige Stellung des Württemberger Weins als die eines Grundnahrungsmittels immer noch im Hinterkopf präsent, obwohl sich die Weine inzwischen weit davon entfernt haben. Der Chianti, der ebenfalls ein Grundnahrungsmittel war, kam ja auch viel später zu Ruhm und Ehren als etwa der Burgunder, der schon immer in moderaten Mengen zum Essen dazugetrunken wurde.

Wenn Württembergs Winzer oft zu bescheiden sind, um auch in der Ferne ihre Weine mit breiterer Brust zu präsentieren, dann könnten sie sich vor Augen führen, dass die schwäbische Kompetenz im Umgang mit Reben und Wein schon sehr früh ein Exportartikel wurde: Als Kurfürst August von Sachsen und seine beiden Nachfolger Christian I. und II. dem Weinbau im Elbtal neue Impulse geben wollten, arbeitete der aus Stuttgart stammende kurfürstliche Rat Dr. Aichmann im Jahr 1603 einen Plan für die Anlage von Weinbergterrassen zwischen Meißen und der Hoflößnitz aus. Noch heute erzählen die Winzer etwa in Radebeul bei Dresden, dass für die Anlage der Steilterrassen Arbeiter aus Lauffen vom Neckartal an die Elbe gekommen seien.

Wer schon aus der Historie heraus so viel Kompetenz im Weinfach besitzt, braucht sein Licht ganz gewiss nicht unter den ­Scheffel zu stellen.

Sodele!

So schön ist es am Rand der Schwäbischen Alb: Diev gärtnerisch gepflegten Reben des Winzers Helmut Dolde wachsen bis auf über 500 Meter Höhe.
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So schön ist es am Rand der Schwäbischen Alb: Diev gärtnerisch gepflegten Reben des Winzers Helmut Dolde wachsen bis auf über 500 Meter Höhe.

Württemberg auf einen Blick 

Größe: 11.358 Hektar (2021).

Durchnittsertrag im Gebiet (2011-2021): 88 hl/ha

Qualitativ wichtigste Rebsorten: Riesling (weiß), Lemberger, Spätburgunder (rot). Verhältnis weiß zu rot: 34 Prozent weiße Trauben, 66 Prozent rote Trauben .

Klima: Die Jahresdurchschnittstemperatur liegt (für die Station Weinsberg) bei 10,8 Grad Celsius, die Sonne scheint an durchschnittlich 1.730 Stunden pro Jahr, die Niederschläge liegen im langjährigen Mittel bei 714 Millimetern (alle Angaben für den Zeitraum 1991–2020).

Relief und Höhe: Der Neckar und seine Nebenflüsse gliedern das Gebiet: Am Fluss selbst gibt es zahlreiche steile Terrassenweinberge, abseits des Flusses sind mild hängige bis steile, meist flurbereinigte Lagen die Regel. Die höchstgelegenen Weinberge Württembergs liegen auf etwa 530 Metern in Weilheim an der Teck und in Neuffen am Rand der schwäbischen Alb, die tiefstgelegenen unterhalb der Burg Hornberg bei Neckar-zimmern auf etwa 150 Metern.

Geologie: Große Teile des Anbaugebiets Württemberg sind von den Verwitterungböden der Gesteine aus dem Zeitalter des Trias bestimmt: Buntsandstein findet sich etwa in Esslingen, die meisten Steillagen des Neckarufers liegen jedoch auf Muschelkalk – dasselbe gilt für die Weinberge an Kocher, Jagst und Tauber im Nordosten Württembergs. Im Unterland um Heilbronn, an Strom- und Heuchelberg sowie im Remstal dominieren die Schichten des Keupers. Eine abgelegene Insel für sich sind die Weinbauorte des »bayerischen Bodensees«, die weinrechtlich zum Anbaugebiet Württemberg gehören. Hier dominieren die Süßwassermolasse aus der Zeit, als sich die Alpen bildeten, und der Moränenboden als Überbleibsel der letzten Eiszeit.

Geschichte: Die ältesten Dokumente, die Weinbau in Württemberg bezeugen, datieren ins achte Jahrhundert. Da Archäologen in Lauffen einen römischer Gutshof aus dem zweiten Jahrhundert ausgraben konnten, spricht jedoch einiges dafür, dass schon die Römer Reben im Neckartal gepflanzt haben. Im 16. Jahrhundert dürfte der Weinbau seine größte Ausdehnung erreicht haben, man schätzt, dass damals 45.000 Hektar unter Reben standen. 1868 wurde in Weinsberg die »Königliche Württembergische Weinbauschule« gegründet – als erstes deutsches Bildungsinstitut, das sich dem Weinbau widmete.


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Erschienen in
Falstaff Nr. 09/2023

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Ulrich Sautter
Ulrich Sautter
Wein-Chefredakteur Deutschland
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