Zu Hause kann überall sein, wo man mit Menschen zusammengekommt, die einem etwas bedeuten. 

Zu Hause kann überall sein, wo man mit Menschen zusammengekommt, die einem etwas bedeuten. 
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Essay: Nach Hause kommen

Der Dezember ist die Zeit, um einander wiederzusehen, alte Freundschaften aufleben zu lassen, die Familie zu besuchen und gemeinsam der Dunkelheit zu trotzen.

Nie bin ich durch grössere Finsternis gestapft, habe mehr gefroren, mich verlorener gefühlt als an jenem Weihnachtsabend vor fast 30 Jahren in einem Waldstück im Kärntner Mölltal. Mein Vater, selbst am Rande eines Dorfes aufgewachsen, da, wo schon der Wald begann und die Bäume ihre Äste nach den Bewohnern auszustrecken schienen, hatte sein Leben lang mit der Stadt gefremdelt. Mit den abgezirkelten Gärten, den Wohnhäusern ohne Aussicht, den engen Gassen. Er hatte die Weite vermisst, die Ruhe, den Geruch der Bäume und des Schnees. An diesem Weihnachtstag hatte er eine Hütte am Berg gemietet, in der er mit uns feiern wollte. Und wahrscheinlich war es seine Absicht gewesen, uns all das zu zeigen, was ihm aus seiner Kindheit fehlte. Verbunden mit der Hoffnung, dass wir ihn so vielleicht besser verstehen würden. Die sollte sich zunächst eher nicht erfüllen.

Es war nicht möglich, direkt zur Hütte zu fahren, also liessen wir das Auto ein Stück darunter stehen und mussten den letzten Teil des Weges zu Fuss gehen. Im dichten Nadelwald konnte man die Hand vor Augen kaum sehen. Wir kamen nur langsam voran, taumelten von einem Ast, an dem wir uns festhielten, zum nächsten. Ständig pikste uns irgendetwas. Wir rutschten am feuchten Waldboden aus. Es war eiskalt. Und gerade als schon leichte Panik in uns aufstieg, erreichten wir eine Lichtung und sahen vor uns, mitten auf einer schneebedeckten Wiese, die Hütte, in der unser Vermieter das Licht für uns brennen gelassen hatte. Dieser Moment hatte etwas Unwirkliches. Die Dunkelheit ringsum, das hell erleuchtete Haus in der Ferne, die Aussicht auf Wärme, Essen und Gemütlichkeit, all das hatte ganz ohne Kitsch und Pathos mehr von Weihnachten als jedes noch so bombastische Fest davor. Und ich glaube nicht, dass wir uns, solange mein Vater noch lebte, jemals mehr als Familie gefühlt haben als in diesem Augenblick: Eine Gruppe Menschen, die zusammengehörte und gemeinsam durch die Dunkelheit nach Haus ging. Denn so fühlte es sich an, als wir die Hüttentür öffneten: Als würden wir – endlich – nach Hause kommen. 

Dort hinkommen, wo man erwartet wird 

Nach Hause zu kommen, ist mehr als nur ein Vorgang – Tür auf, Tür zu, Tasche in die Ecke. Es ist ein grosses Sehnsuchtsgefühl, gespeist aus Kindheitserinnerungen. Es bedeutet, willkommen und in Sicherheit zu sein. Sich am Ende eines langen Weges auf Schutz und Geborgenheit verlassen zu können. Nach Hause zu kommen heisst, dorthin zu kommen, wo Menschen auf einen warten. Wenn nötig, Tage, Monate oder sogar Jahre. Nach Hause zu kommen heisst auch, sich nicht länger verstellen zu müssen, sich fallen lassen zu können, nichts vorzuspielen, keine Abgebrühtheit, keine Härte vorzugeben, nicht tun zu müssen, als wäre man unverwundbar. Es bedeutet, auf Menschen zu treffen, denen man sich verbunden fühlt, denen man vertrauen kann. Die einen so kennen, wie man ist, nicht so, wie man sich zu geben gelernt hat, oft aus Selbstschutz, noch öfter aus Bequemlichkeit. Um nicht so viel über sich selbst nachdenken zu müssen und noch weniger über die anderen. 

Nie ist die Zeit besser, sich wiederzusehen, in der Nähe und Wärme der anderen zu entspannen, als im Advent, wenn man gemeinsam der Kälte und der Dunkelheit trotzen kann und all dem Aberglauben, der damit seit jeher verbunden ist. Es gibt genügend Anlässe, um alte Freundschaften wieder aufleben lassen zu können, ohne sich umständlich erklären zu müssen. Verwandte zu besuchen, die man lange nicht gesehen hat, Konflikte grosszügig ruhen zu lassen und das Gemeinsame über das Trennende zu stellen. Denn gerade das raue, unwirtliche Klima dieser Jahreszeit wirft uns auf das Wesentliche zurück, auf die grundlegenden Fragen. Wer schützt uns, wer nimmt uns auf, wo können wir uns wärmen? 

Die frostige Witterung, die kurzen Tage, das spärliche Sonnenlicht erinnern uns daran, dass sich gemeinsam vieles leichter überstehen lässt. Dass wir einander brauchen. Das hat spätestens die Pandemie selbst dem leidenschaftlichsten Einzelgänger gezeigt. Dass der Mensch ein Gemeinschaftswesen ist. Dass es eben doch ein riesiger Unterschied ist, ob man den anderen bloss virtuell zu sehen bekommt oder ob man mit ihm im selben Raum sein, ihn umarmen, sich an seine Schulter lehnen oder ihm die Hand reichen kann. 

Wir Gemeinschaftswesen

Natürlich steht die Adventszeit seit Langem in der Kritik, und das sicher auch zu Recht. Da wird der grenzenlose Konsum angeprangert, das Schwelgen im dekadenten Überfluss, der Pomp, der nichts Besinnliches mehr in sich trägt. Aber steckt hinter all den prächtigen Geschenken, der überladenen Dekoration, dem üppigen Essen nicht auch nur der Wunsch, zusammen zu sein? Und nicht allein?

Es ist nicht einfach, nach Hause zu kommen. Und für viele bleibt es eine Sehnsucht, ein Wunsch, ein Gefühl, nach dem sie suchen und das nur schwer zu finden ist. Mein Vater ist bald zehn Jahre tot. Aus mir ist bis heute kein Naturmensch geworden. Ich bin nie wieder zu Weihnachten auf eine einsame Hütte gefahren oder durch den nächtlichen Wald gegangen. Aber das Licht, das mir damals so unwirklich vorgekommen ist, das leuchtet heute in der Weihnachtszeit in der Stadt, in der ich lebe, in den Wohnungen der Freunde, mit denen ich gemeinsam feiere.
Denn zu Hause, das kann überall sein, wo man mit Menschen zusammenkommt, die einem wirklich etwas bedeuten. Und ich glaube, nichts anderes wollte er uns damals zeigen.


Erschienen in
Falstaff Nr. 10/2022

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Barbara Kaufmann
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