Kulinarik aus den Alpen: Gipfelsiege des Genusses
Alpinküche ist in. Produkte aus den Bergen boomen, und die Spitzenköche nehmen den Trend gerne auf.
Sie heisst Berta. Oder besser gesagt, sie hiess Berta. Die Kuh, die ihr Leben hat lassen müssen, damit ich in den Genuss dieses köstlichen Stücks Trockenfleisch komme. Das kann ich anhand der Produktnummer auf der Website des Anbieters AlpenHirt nachschlagen – Kuhtransparenz nennt sich dieses junge Phänomen. Von der Verpackung grüsst AlpenHirts Urneni (Urgrossvater) mit Rauschebart, als wärs der Alpöhi aus «Heidi». Auch er hat schon Trockenfleisch produziert. Der Trend beschränkt sich nicht auf alpine Produkte, ist hier aber verstärkt zu beobachten: Wichtig sind das Individuelle, Unverwechselbare, Nachvollziehbare sowie die Anbindung an die Tradition. Das rechtfertigt die Produktkosten, die unter diesen Umständen höher sind als gewohnt.
Wenn einer den Überblick über die alpine Kulinarik hat, dann ist es Dominik Flammer. Sein Buch «Das kulinarische Erbe der Alpen» ist nichts weniger als eine Kulturgeschichte des alpinen Essens und hat zu Recht Furore gemacht. Ergänzt wird es durch die «Enzyklopädie der alpinen Delikatessen», wo Köstlichkeiten von Echtem Beinwell (ein Kraut) bis zu Kärntner Reindling (ein Gebäck) aufgelistet sind. Flammer geht es bei alledem um die Sensibilisierung für die Vielfalt an Produkten und Zubereitungsweisen samt ihrer Geschichte, verbunden mit einem Plädoyer für individuelle und nachhaltige Produktion. Dabei argumentiert er «mit historischen Fakten und der Macht der Bilder, aber vor allem mit der geballten Überzeugungskraft des Geschmacks», wie er sagt.
Die Produkte sind das eine – aber wie soll man schliesslich damit kochen? Flammer ist mit dem guten Beispiel vorangegangen und hat zu seinem «Kulinarischen Erbe der Alpen» ein gleichnamiges Kochbuch verfasst. Stefano Zonca aus dem Aostatal beispielsweise präsentiert hier Kastanienmehl-Spaghetti mit Wirz und Bagna cauda, oder Jeremias Riezler aus dem Kleinwalsertal seine Kääs-Chüachle mit Bergfichte.
Zu sagen, es werde jetzt auf breiter Front die alpine Küche entdeckt, wäre so aber nicht richtig. Beispielsweise sind die Capuns, seit sie erfunden wurden, der Stolz jeder Bündner Hausfrau. Die Walliser Cholera ging ebenso wenig vergessen wie der Glarner Schabziger. Das sind seit jeher kulinarische Denkmäler, die stark mit der regionalen Identität verbunden sind. Neu sind hingegen die wiedererwachte Kreativität und der Tüftlergeist. Dafür steht beispielsweise die enorm aufgeweckte Küche von Ivanassèn Berov im appenzellischen Trogen. Typisch für ihn ist das Kräutermenü, das wir neulich gegessen haben: Ente mit Teichlinsen und Teufelskralle, Knöterichrisotto in Brennnesseltempura, Kohldistelsuppe, Joghurt mit Waldmeister. Ein sehr empfehlenswerter kulinarischer Alpenspaziergang auf der Basis vorzüglicher Technik.
Besonders wichtig ist die Suche nach einem unverwechselbar alpinen Stil für die Spitzenköche. Nicht jene, die in den Hotels der Topdestinationen seit vielen Jahrzehnten ihre Gäste mit klassischer Hochküche bekochen, sondern jene, die abseits davon die Küchenkunst voranbringen wollen. Marc Veyrat und Andreas Caminada sind die höchstgewerteten unter ihnen. In dieser Sphäre reicht es natürlich nicht, mit Bergheu, dem Fleisch der Kuh von nebenan oder alpinem Getreide zu kochen, auch wenn dies auf hohem Niveau geschieht.
Caminada tut zwar Ähnliches, stellt aber darüber hinaus seine Kreationen oft in den Kontext der alpinen Kultur. Bezugspunkte sind die Architektur von Peter Zumthor oder Gion A. Caminada, der Künstler und Schloss-Tarasp-Besitzer Not Vital oder die rätoromanischen Rap-Texte der Band Liricas Analas. So oder so erstaunt der Wandel, den die ursprünglich häufig von Mangel geprägte alpine Küche zum hippen und hochpreisigen Phänomen durchgemacht hat. Das ist letztlich auch der Edelkuh Berta zugute gekommen – vor diesem Hintergrund hat sie bedeutend länger auf ihrer saftigen Alpweide grasen können als ihre konventionellen Artgenossinnen.
Aus dem FOOD ZURICH Spezial 17.