Naturwein – Wein aus natürlich produzierten Trauben und ohne Eingriffe im Keller – ist weltweit gefragt. Das ist zu einem Gutteil der skandinavischen Spitzengastronomie zu verdanken.

Naturwein – Wein aus natürlich produzierten Trauben und ohne Eingriffe im Keller – ist weltweit gefragt. Das ist zu einem Gutteil der skandinavischen Spitzengastronomie zu verdanken.
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Naturwein: Der Trend aus dem Norden

Naturwein hat sich zu einem fixen Bestandteil der Weinwelt entwickelt. Auch in der Spitzengastronomie spielen Low-Intervention-Weine eine immer grössere Rolle – darunter viele Gewächse aus dem deutschsprachigen Raum. Diesen Siegeszug haben die Naturwein-Winzer nicht zuletzt Skandinavien zu verdanken. Falstaff ist der Entwicklung auf den Grund gegangen.

Am meisten forderten Mads Kleppe die Gäste aus dem deutschsprachigen Raum. Der ehemalige Head Sommelier des Restaurants «Noma» in Kopenhagen schmunzelt, als er dies beim Gespräch mit Falstaff erzählt: «Deutsche, Schweizer und Österreicher hatten zu Beginn die grösste Mühe mit den natürlich produzierten Weinen, die ich in der Speisebegleitung im ‹Noma› servierte. Ich spreche hier von einer bestimmten Generation, die nur Burgunder, Bordeaux, Champagner oder deutschen Riesling trinken wollte. Heute sind zum Glück alle offener.«

Selbst er, einer der grossen Botschafter der Natural Wine-Bewegung, begann einst ganz klassisch. Die erste Flasche Wein, die Kleppe mit zarten sechzehn Jahren in ihren Bann zog, war kein trüber Natural Wine, sondern eine Flasche Faustino I aus dem Jahr 1964. Ein Wein, der alles andere als zurückhaltend produziert wird. Seine Karriere als Sommelier startete der gebürtige Norweger in Eyvind Hellstrøms Restaurant «Bagatelle» in Oslo – dem ersten mit Michelin-Stern in ganz Skandinavien. Er trug damals gerne Anzug, nahm an Sommelier-Meisterschaften teil und beschäftigte sich mit den sogenannten grossen Weinen der Welt aus Burgund, Bordeaux und Co. «Ich habe schon damals ein Verständnis dafür entwickelt, dass es mehr als nur kon­ventionellen Wein gibt, obwohl ich damit grösstenteils aufwuchs», erzählt Kleppe. Dieses Verständnis für die Komplexität der Weinwelt hat sich in den letzten Jahren zum Konsens entwickelt. Konventionell und unkonventionell existieren friedlich nebeneinander, befruchten einander gegenseitig und machen die Weinwelt so divers wie nie.

Die häufig leichten, trüben und manchmal aromatisch fordernden Natural Wines sorgen zwar immer noch bei manchen gestandenen Weinkennern für Kopfschütteln, haben sich mittlerweile aber als fixer Bestandteil der Weinwelt etabliert. Mehr noch: Sie haben die ganze Branche zum Nachdenken angeregt, auch Grossproduzenten hinterfragen heute den Einsatz von Chemie, Zusatz- und Hilfsstoffen, ein Verdienst der zurückhaltend arbeitenden Winzer. Beim Siegeszug der Naturweine spielte die nordische Spitzengastronomie, allen voran das «Noma» in Kopenhagen, eine wichtige Rolle. Eine bessere Bühne, als beim fünfmaligen Spitzenreiter der «The World’s 50 Best Restaurants»-Liste ausgeschenkt zu werden, gibt es für einen Wein und seinen Produzenten kaum.

Der Pionier von der Mosel: Rudolf Trossen ist Bio-Winzer und produziert genauso klassische, restsüße Moselrieslinge mit Schwefeleinsatz wie auch Naturweine ganz ohne Zusätze.
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Der Pionier von der Mosel: Rudolf Trossen ist Bio-Winzer und produziert genauso klassische, restsüße Moselrieslinge mit Schwefeleinsatz wie auch Naturweine ganz ohne Zusätze.

Keimzelle Noma

Sommelier Mads Kleppe lernte das «Noma» schon kurz nach dessen Eröffnung im Jahr 2003 gemeinsam mit seinem damaligen Chef Eyvind Hellstrøm kennen. Immer wieder flogen sie nach Kopenhagen und besuchten René Redzepis Restaurant, dem Hellstrøm schon damals attestierte, dass es einst die Zukunft der Gastronomie einläuten würde. Als das «Bagatelle» im Jahr 2009 schloss, wollte Kleppe eigentlich bei einem Drei-Sterne-Restaurant in New York anheuern. «Als ich Eyven davon erzählte, wurde er plötzlich ganz still am Telefon. Er fragte mich, was ich glaube, weshalb er mich wohl so häufig mit ins ‹Noma› genommen habe und dass er wolle, dass ich dort anfange. Das war das einzige Mal, dass er mich während unserer Zusammenarbeit angeschrien hat.» Seine ursprünglichen Pläne verwarf Kleppe daraufhin, ging nach Kopenhagen und begann, im «Noma» zu arbeiten.

Pontus Elofsson, der erste Head Sommelier des Restaurants «Noma», fokussierte bereits zu diesem Zeitpunkt sehr stark auf biologisch und biodynamisch produzierte Weine und begann langsam, auch Natural Wines in die Weinbegleitung einzubauen. Darunter auch Weine des Winzers Rudolf Trossen von der Mosel, eines der Biopioniere und Urgesteine der deutschen Natural-Wine-Szene. Irgendwann, so gibt Trossen zu Protokoll, standen zwei junge Dänen vor seiner Tür, die auf der Suche nach biologisch produzierten Weinen aus Deutschland waren. Beide in der Gastronomie tätig, gut in der Kopenhagener Spitzengastronomie vernetzt und gerade dabei, ihre eigene Weinhandlung namens Krone Vin aufzubauen. Lasse Kruse Rasmussen und Christian Brinch sorgten dafür, dass Trossens Weine – damals zwar biologisch an- und ausgebaut, jedoch moderat traditionell vinifiziert – unter anderem im «Noma» landeten. «Unser erster Wein, der dort ausgeschenkt wurde, war ein restsüsser Riesling aus dem Jahr 2006 mit 100 Gramm Restzucker und neun Promille Säure. Eine richtige Granate», erzählt Trossen.

Der Wein kam gut an, die Dänen brachten regelmässig Topsommeliers aus Kopenhagen an die Mosel, unter anderem Mads Kleppe, der Trossen irgendwann fragte, ob er nicht auch Wein ganz ohne Schwefeleinsatz produzieren könne. Ohne Risiko für ihn, denn die Menge würde fix abgenommen, unabhängig davon, ob die Weine gelingen oder nicht. «Es war mir wichtig, ihn zu unterstützen, damit er genau das tun kann, wovon er immer geträumt hat», berichtet Kleppe. Als das dänische Komitee das nächste Mal an der Mosel war, holte Trossen zwei Weine zum Probieren. Denselben Riesling, einmal filtriert und geschwefelt, einmal völlig ohne Eingriffe. «Die Schar der Besucher hat sich sofort in zwei Hälften geteilt. Die einen haben gefragt, wo die Frucht hin sei, die anderen haben gejubelt», erzählt Trossen. Seitdem vinifiziert der Winzer Naturweine genauso wie klassische trockene bis restsüsse Moseltropfen, die ohne Schwefelzugabe nicht möglich wären. Trossen ist alles andere als ein Dogmatiker und schätzt vor allem die Freiheit und Diversität, die mit den Naturweinen Einzug in die Weinwelt und in sein Schaffen gehalten hat. Diese Haltung teilt er mit vielen seiner Kollegen.

Ein neues Weinverständnis

Nachdem Mads Kleppe Head Sommelier des «Noma» wurde, sah er nach eigenen Aussagen die grosse Chance, das, was Elofsson begonnen hatte, auf die Spitze zu treiben. «Ich wollte den nächsten Schritt gehen und das ‹Noma› zum ersten Restaurant der Welt machen, das im Natural-Wine-Bereich voll durchstartet», erzählt er. Für ihn bedeutete das, ein neues Weinverständnis zu entwickeln, das nichts mit den klassischen Weinen zu tun hatte, mit denen er zuvor arbeitete. Natürlich machte er dabei auch Fehler, gesteht er rückblickend, servierte Weine, die er heute nicht mehr servieren würde.

Die Weine des Burgendländer Ausnahmewinzers Christian Tschida gehören hier nicht dazu. Sie waren unter Kleppe jahrelang fixer Bestandteil der Weinbegleitung im «Noma». Erstmals servierte der damals noch junge Kleppe Christian Tschidas Laissez-Faire 2009 zu einem Austerngang im Jahr 2011. Eine gewagte Kombination, die den Gästen des Restaurants jedoch so gut schmeckte, dass der vorrätige Wein bereits drei Wochen vor Ende des Menüs zur Neige ging. «Ich bekam am Wochenende einen sehr nervösen Anruf vom ‹Noma›. Sie fragten mich, ob ich denn noch Wein hätte und ob es irgendeine Möglichkeit gäbe, diesen in zwei Tagen nach Kopenhagen zu liefern», erzählt Christian Tschida. Statt die Weine mittels Spedition zu liefern – die fünf Tage dafür gebraucht hätte –, packte Christian Tschida seinen Kombi bis oben hin voll mit Kartons Laissez-Faire 2009 und fuhr um fünf Uhr morgens vom burgenländischen Illmitz in Richtung Kopenhagen los. Nach siebzehn Stunden abenteuerlicher Fahrt durch ganz Deutschland erreichte er das «Noma» gegen zehn Uhr Abends, wo er mit großer Freude empfangen wurde.

«Wir haben den Laissez-Faire dann gemeinsam mit dem Team ausgeladen, fünf Tage später war ich wieder zu Hause», berichtet Christian Tschida. Alles, was dazwischen geschah, ist Geschichte. Christian Tschida und Mads Kleppe verbindet seit dieser Zeit eine innige Freundschaft. Beide teilen die Ansicht, dass sich die Weinwelt in den letzten Jahren rasant entwickelt hat und die Akzeptanz gegenüber natürlich produzierten Weinen deutlich gestiegen ist. Überall auf der Welt gibt es heute Restaurants, Bars und Händler, die natürlich produzierte Weine anbieten. «Es werden immer mehr, und das ist wirklich toll, denn das Thema schliesst niemanden aus. Die Leute können sich frei fühlen und das geniessen, was sie wollen», sagt Kleppe.

Darüber, warum Skandinavien Vorreiter beim Konsum von Naturwein war und warum die Akzeptanz hierzulande lange klein war, lässt sich nur spekulieren. Wichtig ist sicher, dass Skandinavien kaum eigenen Wein produziert und darum möglicherweise offener ist. «In Skandinavien ist eine ganze Generation mit naturbelassenem Wein aufgewachsen», gibt Christian Tschida zu bedenken. «Ich habe letztens erst eine Spitzensommeliere kennengelernt, die – wissentlich – noch nie einen gefilterten Wein getrunken hat. Das kann man natürlich zuerst als riesiges Manko sehen, aber ich finde so ein Faktum extrem spannend.»

Kopenhagen, Tokyo, New York

Neben Dänemark attestiert Christian Tschida auch Japan eine Pionierrolle im Naturweinbereich. «In unserer europäischen Blase haben wir davon nicht so viel mitbekommen. Dänemark war aber schon eine Art Speerspitze der Szene.» Auch London und New York spielten eine wichtige Rolle als Plattformen für Naturweine. Beide Städte gehören beispielsweise zu den Hauptabsatzmärkten der von Hans-Peter Schmidt geführten Domaine Mythopia aus dem Schweizer Kanton Wallis. Rund 90 Prozent seiner Weine werden exportiert. In der Schweiz finden die teuren Tropfen wenige Liebhaber – im Gegensatz zu Kopenhagen, wo die experimentellen, naturbelassenen Weine nicht nur im «Noma», sondern in vielen weiteren Lokalen angeboten werden.

Schmidt ist in seiner Heimat bis heute weitgehend unbekannt, in der weltweit vernetzten Naturweinszene aber so etwas wie ein Guru. Er entwarf ein völlig neuartiges Konzept des Rebbergs – eines, das auf Biodiversität beruht und viele Winzer inspiriert. Dort, wo eigentlich Reben in Reih und Glied stehen sollten, findet sich ein wilder Dschungel: kopfhohes Gras, Obstbäume, Sträucher, dazwischen Rebstöcke, die man nur mit etwas Geduld erspähen kann. Jeder gelernte Weinbauer würde ob der Wildheit der Anlagen die Hände über dem Kopf zusammenschlagen. Für Schmidt und seine Fans aber ist dieser Rebberg die Grundlage von einigen der fantastischsten Naturweine aus dem Alpenraum, in sich ruhenden Tropfen, die ihren Charakter oft erst nach Stunden im Glas preisgeben. «Für mich ist das der schönste Weinberg der Welt», sagt etwa Mads Kleppe, als wir ihn auf Hans-Peter Schmidts Arbeit ansprechen. Die Weinwelt ist heute so divers und frei wie noch nie – zu einem Gutteil dank Skandinavien. Und das ist gut so.


Was ist Naturwein?

Die Bezeichnung Naturwein ist gesetzlich weder geschützt noch geregelt. Was unter Naturwein, Natural Wine oder Vin naturel verstanden wird, ist extrem vielfältig. Grundsätzlich werden so Weine bezeichnet, die mit möglichst wenigen Eingriffen produziert werden: Ausgangspunkt ist ein naturnaher Anbau – mit oder ohne Bio-Zertifizierung, mit Einsatz biodynamischer oder noch strikterer Methoden. Im Keller wird Verzicht geübt. Weder Reinzuchthefen noch stabilisierende Schönungen oder Filtrationen werden eingesetzt, und auch Schwefeldioxid wird nicht oder nur in moderaten Dosen verwendet. Naturweine bestehen im Idealfall also nur aus Trauben und Zeit. Übrigens: Der Begriff Orangewein hat mit Naturwein direkt nichts zu tun und ist schon gar nicht als Synonym zu verwenden. Orangeweine sind maischevergorene Weissweine – Weissweine also, die mit Stielen und Beerenhäuten eingemaischt und vergoren werden. Diese existieren als Naturweine, können aber auch konventionell hergestellt werden. Der Ursprung der Naturweinbewegung ist in den 1970er-Jahren im französischen Beaujolais zu verorten. Als Urvater der Bewegung gilt Weinfachmann und Négociant Jules Chauvet (1907–1989). Als Gegenbewegung zu den damals industriell hergestellten Beaujolais-Weinen führte er umfangreiche Analysen durch. Er wurde so zu einem leidenschaftlichen Vertreter von möglichst natürlich hergestellten Weinen und sprach sich beispielsweise vehement gegen Chaptalisation, Filtration und im Idealfall auch gegen Schwefeln aus. Seine berühmteste Aussage lautete: «Le vin, moins on le touche, mieux ça vaut» – «Je weniger man den Wein berührt, desto besser wird er.»


Erschienen in
Falstaff Nr. 06/2022

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Dominik Vombach
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Chefredaktion Schweiz
Benjamin Herzog
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