Terrassenweinberge und Weinbergshäuschen – so sieht vielerorts der Weinbau bei Freyburg im Tal der Unstrut aus.

Terrassenweinberge und Weinbergshäuschen – so sieht vielerorts der Weinbau bei Freyburg im Tal der Unstrut aus.
© Christoph Keller

Frische Weine, coole Typen: Das Anbaugebiet Saale-Unstrut

Deutschlands nördlichstes für Qualitätswein definiertes Anbaugebiet liegt westlich von Leipzig und trägt den Namen der Flüsse Saale und Unstrut. Der dortige Weinbau ist schon über 1000 Jahre alt – und tritt heute jung, reflektiert und dynamisch auf wie kaum irgendwo anders.

Naumburg an der Saale, 32.000 Einwohner, ist ein schmuckes kleines Städtchen mit einem Dom, der ­UNESCO-Weltkulturerbe ist. Gründe, hierher zu reisen, gibt es noch mehr. Einer liegt an der Ausfallstraße Richtung Bad Kösen: Hinter dem mit geschmiedeten Trauben verzierten Tor erhebt sich ein Gutsgebäude mit angedeu­tetem Türmchen, der Sitz des Winzerhofs Gussek. »Wir sitzen hier in einem historischen Gebäude«, erklärt Senior André Gussek. »Das Gebäude ließ der preußische Staat als staatliche Weinbauverwaltung errichten, nachdem Naumburg beim Wiener Kongress an Preußen gefallen war.«

Die Preußen wussten, wie auch an Rhein, Nahe und Mosel, den Bodenschatz der Region zu würdigen: Denn an den Muschel­kalk- und Buntsandsteinhängen an Saale und Unstrut hatte sich schon seit dem frühen Mittelalter eine hochstehende Weinkultur entfaltet. Zwar bedroht so weit im Norden stets Frost den Ertrag, doch die Winzer nehmen ihn hin: »2020 gab es pünktlich zu den Eisheiligen minus sieben Grad, da haben wir in zwei Stunden fünfzig Prozent des Ertrags verloren«, erwähnt Gussek. Im Winter 2020/2021 erfror bei Temperaturen von fast minus 30 Grad ein ganzer Hektar Spätburgunder. Das Qualitätsstreben im Gebiet ficht das nicht an, im Gegenteil: Am Beginn seiner Laufbahn schrieb Gussek eine Diplomarbeit über die Spätlese, darauf wurde der Begriff 1984 ins Weinrecht der DDR aufgenommen. Mit einer Definition, die neben einem Mindestmostgewicht auch einen zuckerfreien Extrakt von 25 Gramm pro Liter forderte – Billigspätlesen aus Massenertrag hatten durch diese Regelung keine Chance.

In einer verklärten Vergangenheit lebt Gussek jedoch nicht. Mit Weinen wie dem Silvaner vom Kaatschener Dachsberg aus 96-jährigen Reben verleiht er der Geschichte Gegenwart, rauchige Terroir-Töne inklusive, die der Muschelkalk hervorbringt, wenn sich die Wurzeln fast ein Jahrhundert lang ins Muttergestein verzweigt haben.  

André Gussek keltert einen Silvaner von nahezu 100-jährigen Reben.
© Saale-Unstrut-Tourismus e.V.
André Gussek keltert einen Silvaner von nahezu 100-jährigen Reben.

Von Null auf Hundert in zweieinhalb Generationen

Im Hof des Weinguts Böhme & Töchter sind Bauarbeiten zugange. Der alte Dreiseithof in Gleina, unweit Freyburg/Unstrut, benötigt eine Erweiterung. »Mein Großvater war bei der Agrargenossenschaft angestellt und hat 1986 im Dorndorfer Rappental den ersten Weinberg wieder aufgestockt«, erzählt Marika Sperk, geborene Böhme. »Als er nach der Wende mit 55 Jahren in den Ruhestand geschickt wurde, pflanzte er weitere Weinberge und brachte sich autodidaktisch das Weinmachen bei.« Aus diesen Anfängen baute die Elterngeneration einen Weinbaubetrieb auf. Und jetzt gelang der jungen Generation die prestigeträchtige Aufnahme in den VDP. Marika Sperk ist studierte Geisenheimer Önologin, Ehemann Sandro hat Weinwirtschaft studiert. Nach einem Aufenthalt in Oregon stieg das Ehepaar zu Hause ein, seither formen die beiden das Weingut zu einem Vorzeigebetrieb mit Weinen in einem straff-mineralischen, auf Frische und Potenzial hin vinifizierten Stil. Was ist für sie die wichtigste Sorte? »Riesling ist schon wichtig, und die Nachfrage ist da. Aber die Gebietsidentität geht trotzdem ganz klar in Richtung Burgunder«, ist Marika Sperk überzeugt. Und reicht wie zum Beweis die Fassprobe des 2022er-Chardonnay: Der Holzeinsatz ist gekonnt, die Tiefe des Weins beträchtlich.

Ein Hipster mit Export

Dritter Ort, dritter Keller, dritter Weinstil: Im Ort Burgscheidungen teilt sich Konrad Buddrus seine Räumlichkeiten mit der Kirchengemeinde. Hinter der rechten Eingangstür im Flachbau am Ortsrand finden Gemeindeversammlungen statt, hinter der linken Tür stehen in mehreren dicht aneinandergeschobenen Reihen Tanks und Fässer. »Die Kapazität ist ziemlich am Anschlag«, kommentiert der 28-Jährige mit dem Hipsterbart, der eine Hälfte des Unternehmens »Konni & Evi« ist. Das Weingut begann 2017 mit 30 Ar, inzwischen ist die Fläche auf vier Hektar gewachsen. Gemeinsam mit seiner Partnerin, die noch Teilzeit als Grundschullehrerin tätig ist, sammelt Buddrus Weinberge mit alten Reben ein, die niemand mehr bewirtschaften möchte. An diesen Weinen ist fast alles anders: Buddrus richtet sich im Weinberg nach den Regeln die Biodynamik, er liest sehr früh – meist so, dass die durchgegorenen Weine nur zehn oder elf Volumenprozent Alkohol haben.

Er maischt auch die weißen -Trauben zur (spontanen) Gärung und verzichtet bis zur Abfüllung auf Schwefel. Dort bekommen die Weine mal fünf, mal zehn Milligramm Schwefel – einen Bruchteil des Üblichen. »Ob das dann Naturweine sind, weiß ich auch nicht, mir ist der Begriff eigentlich nicht wichtig«, so Buddrus, während er mit einem Schlauch aus einem Fass ganz hinten an der Wand eine Fassprobe zieht. Artistisch windet er sich aus dem Fasslabyrinth heraus, um den Wein zu verkosten: »Das ist ein Weinberg, den ich letztes Jahr übernehmen konnte, Silvanerstöcke aus den 1930er-Jahren!« Noch etwas ist bei »Konni & Evi« anders: Vor Ort verkaufen die beiden gar nichts, ein wenig Wein geht nach Berlin, 80 Prozent der Flaschen finden ihre Käufer im Ausland.

Winterruhe in den Weinbergen von Konni & Evi.
© Foto bereitgestellt
Winterruhe in den Weinbergen von Konni & Evi.

Pluralismus

So anders die Weine von »Konni & Evi« anmuten mögen, auf eine gewisse Weise spitzen sie sogar auf besonders prägnante Weise zu, was den Wein von Saale und Unstrut ausmacht: eine große mineralische Frische, die selbst in ihren bissigeren Erscheinungsformen stets ausgeglichen wirkt und in sich ruht. Ob es die Muschelkalkböden sind, ob das kontinentale Reizklima mit kurzer Vegetationsperiode und heißen Sommern – es ist bemerkenswert, mit welch großer Harmonie die nördliche Anmutung einhergeht. Und der Gestaltungsspielraum der Winzer ist alles andere als klein.

Das Gebiet greift zum einen räumlich weit aus: Im Norden reicht es bis an den ­Süßen See bei Höhnstedt nahe Halle und sogar bis hinein nach Brandenburg, im Südwesten inkludiert es Weinbauinseln in Thüringen. Es ist aber auch Platz für die verschiedensten Betriebstypen: In der Winzervereinigung Freyburg sind rund 350 Mitglieder organisiert, hier keltert und vermarktet ein junges Team um Geschäftsführer Hans Albrecht Zieger (46) und Kellermeisterin Kathleen Romberg (35) den Ertrag von rund 380 ­Hektar. Romberg hat eine »Kellermeister ­Edition« aufgelegt, bei der sie dem Weißburgunder im Holzfass zu Schmelz verhilft oder einem Trio roter Trauben (Zweigelt, ­Spätburgunder, ­Dornfelder) in der Assemblage Komplexität gibt. Seit 2015 keltert die ­Freyburger Genossenschaft zudem den Ertrag des Weinhauses zu Weimar. Als Prinz zur Lippe die von ihm in Thüringen aufgerebten 45 Hektar zum Verkauf stellte, griff die Agrargenossenschaft Gleina zu, die ein Mitglied der ­Winzervereinigung Freyburg ist. »Weinbau ist bei uns ein lohnenswertes Geschäft«, kommentiert Zieger trocken.

Bei der Winzervereinigung Freyburg gehen moderne Architektur und Kellerromantik Hand in Hand.
© Matthias Siebert
Bei der Winzervereinigung Freyburg gehen moderne Architektur und Kellerromantik Hand in Hand.

Breitengrad 51

30 Jahre nach der Wende ist fast überall an Saale und Unstrut die junge Generation aktiv, so auch auf einem VDP-Betrieb der ersten Stunde, beim Weingut Pawis. Das andere VDP-Urgestein, das Weingut Lützkendorf, steht durch den Tod von Uwe Lützkendorf in einem Umbruch: Die Kinder sind noch zu jung, um zu übernehmen, es wird aber wohl irgendwie weitergehen.

Die Frage »VDP oder nicht VDP?« ist weniger ein Thema als andernorts. Eine Klammer fürs Weinbaugebiet schafft auch die Gruppe Breitengrad51, die neben den beiden jüngeren VDP-Mitgliedern Matthias Hey und Böhme & Töchter das Weingut Zahn aus Thüringen umfasst, das Landesweingut Kloster Pforta, die Weingüter Klaus Böhme, Gussek, Frölich-Hake sowie Born aus Höhnstedt im Norden.

Der Verein dient auch als Dachmarke für besonders wertige Weine: Die Entscheidung über die Vergabe des Labels »Breitengrad51« fällt in einer Blindprobe. »Das Beste an Breitengrad ist aber der kollegiale Austausch«, sagt Jochen Born, ein gebürtiger Schwabe. Born arbeitete zu Beginn der Nullerjahre bei Rainer Schnaitmann, lernte dann beim Studium in Geisenheim Elisabeth Born kennen, folgte ihr nach Sachsen-Anhalt und nahm bei der Hochzeit sogar ihren Namen an. Bei den Borns ist der Breitengrad51-Wein meist ein Riesling aus der Höhnstedter Lage Kreisberg. Doch es gibt Breitengrad-Weine auch aus anderen Sorten, etwa aus Traminer, Spätburgunder und Zweigelt – Letzteren bringen das Landesweingut Kloster Pforta und das Weingut Hey auf höchstes Niveau: Beide Betriebe können noch auf Rebanlagen zurückgreifen, die nach dem verheerenden Frost von 1986/87 gepflanzt worden waren.

Die Faszination

Matthias Hey sitzt in seiner kleinen Probierstube am Fuß der Steillage Steinmeister und erzählt: »Breitengrad51 gibt es seit 2010, der Verein ist aus der Unzufriedenheit heraus entstanden, dass das Anbaugebiet Saale-Unstrut nur wenig wahrgenommen wurde. Der Impuls war: Kräfte bündeln. Aber das war vielleicht nicht mal das Wichtigste. Sondern das ist, dass wir alle Winzer sind, die sich selbst in Frage stellen. Breitengrad ist kein lauter Verein, keine Marketingvereinigung, sondern wir fragen uns: Was ist Saale-Unstrut?«

Für sich selbst gibt Hey die Antwort mit dichten Weinen, beispielsweise mit einem Respekt gebietenden Riesling GG. »Als ich 2008 angefangen habe, habe ich mir die Frage gestellt: Musst du auch noch Riesling machen? Können wir das? Und diese Skepsis habe ich langsam abgelegt.« Hey blickt aber auch noch weiter zurück: »Meine Eltern hatten das Grundstück als Hobby gekauft, es gab nie Winzer in der Familie, nur die Affinität zum Weintrinken. Als Abiturient habe ich oft im Weinberg gearbeitet und fand das toll. So bin ich Winzer geworden mit einem extrem idealisierten Bild von Weinbau. Bevor ich nach Geisenheim ging, hatte ich keine Ahnung von Monokulturen«, sagt Hey und blickt aus dem Fenster. »Aber wenn ich hier oben im Steinmeister stehe und ins Saaletal schaue, links das alte Zisterzienserkloster, dann ist das für mich jeden Tag aufs Neue einzigartig.« Die Idealisierung ist vergangen, doch die Faszination ist geblieben.

Best of  SAALE-UNSTRUT

1. Platz

2022 Kaatschen Dachsberg Silvaner trocken – 96 Falstaff-Punkte
Winzerhof Gussek, Naumburg

Fassprobe. Steinig im Duft, saubere Hefe. Feuerstein, Rauch. Weiße Blüten, Sesam. Im Mund ebenfalls unmittelbar flintig, geschmeidige Gaumenmitte, feste, harmonische Säure, ein Wein mit großer Tiefe und mineralischer Prägung. Hat trotz seiner Stoffigkeit und Geschmeidigkeit auch eine bezaubernde Leichtigkeit. Super lang anhaltende taktile Mineraliität.

winzerhof-gussek.de, ab März, ca. 20 Euro

© Foto bereitgestellt

 


2. Platz

2020 Weischütz Nüssenberg »Pinot S« Frühburgunder – 94+ Falstaff-Punkte
Winzerei Herr & Frau Lüttmer, Berlin/Vitzenburg

Im Duft: Holunder, Brombeere und Schlehe. Der Gaumen beginnt ölig, füllt den weiten, aber nicht überbordenden Körperrahmen mit mürbem, makellos reifem Tannin, der Gerbstoff adstringiert nicht, die reife Säure ist nahtlos integriert. Komplexer, ziselierter Wein mit Kraft. Sehr langer, beeriger und tabakiger Nachhall.

winzereiluettmer.de, 39 Euro

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3. Platz

Gosecker Dechantenberg Riesling trocken 2021 – 94+ Falstaff-Punkte,
Landsweingut Kloster Pforta, Bad Kösen

Ein Terrassenweinberg auf Buntsandstein, 1986 gepflanzt. Spontangärung, im Granitfass ausgebaut. Duftig, Zitronenblüte, Mandarine,  Blutorange, eine sehr delikate Nase. im Mund dicht und spannungsvoll, mineralisch geprägt, zu Beginn stoffig dominiert, dann geschmeidig und weit ausklingend. Lebendige Säure, salzig zuletzt - intensive Mineralik.

kloster-pforta.de, 24 Euro

© Foto bereitgestellt

Erschienen in
Falstaff Nr. 01/2023

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Ulrich Sautter
Ulrich Sautter
Wein-Chefredakteur Deutschland
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