Man kennt das: Würstel, die über Stunden am Grill vor sich hin welken. Das geht auch anders!

Man kennt das: Würstel, die über Stunden am Grill vor sich hin welken. Das geht auch anders!
© WienTourismus/Paul Bauer

Warum den Wiener Würstelständen in der Ballsaison eine therapeutische Funktion zukommt

Wenn es Nacht wird in Wien, tauchen sie plötzlich auf, wie Bojen im Meer der Stadt: Die Würstelstände. Es wäre halt doppelt schön, wenn sie auch noch gute Würste anbieten würden.

Wenn es Nacht wird in Wien, tauchen sie plötzlich auf, wie Bojen im Meer der Stadt. Die Wiener Würstelstände: Sie scheinen im fahlen Neonlicht unmerklich zu schaukeln. Stets halten sich ein paar Gestrandete daran an und verleihen ihnen Halt. Die Wiener Würstelstände mögen zwar den ganzen Tag über offen haben, zu ihrer wahren Bestimmung aber erwachen sie erst, wenn es ­dunkel wird, wenn die Küchen der Restaurants schließen und der zweite Hunger, jener, der nach dem Trinken und dem Reden kommt, ganz plötzlich und heftig gestillt werden will.

Dies ist die Stunde der »Würstler«, wie die Kleinstgastronomen im Volksmund genannt werden, die in ihren Kiosken eine ganz erstaunliche Vielfalt gebrühter und gebratener Würste feilbieten. Ihr Duft hängt lockend in der Abendluft, und er zieht Kundschaft aus allen sozialen Schichten an: Straßenbahner nach Dienstschluss ebenso wie Opernbesucher auf dem Heimweg, ­­Partyvolk beim Atemholen oder in ­Weltschmerz versunkene Trinker. Der ­Würstelstand ist ein Ort der Einkehr, des Zu-sich-Kommens, der stillen Reflexion über das, was war. Also genau das, was man nach dem Trubel der letzten Tage des Jahres wirklich braucht.

Der Würstelstand ist auch eine urösterreichische Institu­tion. Andere mögen Hot-Dog-Carts haben – wobei: Auch die sind bekanntlich die Erfindung eines nach Chicago emigrierten Altösterreichers. Apropos Altösterreich: Es gibt deutliche Hinweise, dass die Urwürstelstände des alten Österreich nicht etwa zuerst in Wien oder Salzburg auf­kamen, sondern in Krakau. Bis heute hat sich in Krakau eine Tradition großartiger ­Würstelstände gehalten, an denen ganz ­herausragende, mit Schinkenstücken angereicherte Würste feilgeboten werden. Sehr sympathisch: Auch dort haben die Standln oft bis in die Morgenstunden geöffnet.

Das ist auch insofern bemerkenswert, als die Qualität der an Wiener Würstlern ­feilgebotenen Ware über die vergangenen Jahrzehnte nicht gerade zugenommen hat. Zu stark geräuchert, zu dicht gepresst, das Brät zu nachlässig von Knorpeln oder gar Knochensplittern befreit – oder schlicht zu lange im Wurstsud zu Wasserwurstleichen aufgedunsen: Man sollte schon ziemlich benebelt sein, um manch wienerisches ­Würstel noch als genießbar im eigentlichen Sinn wahrzunehmen. Es ist ganz sicher kein Zufall, dass die Käsekrainer – also eigentlich eine Anti-Wurst – gerade in Wien die mit Riesenabstand erfolgreichste Variante einer Würstelstand-Wurst darstellt: Weil einfach weniger Wurstbrät drinnen ist – und weil der geschmolzene Käse als willkommenes Schmiermittel beim Einswerden mit der Wurst so ungemein behilflich ist.

BELIEBTESTE WIENER WÜRSTELSTÄNDE

Das ist doch einigermaßen bemerkenswert, schließlich gibt es anderswo im Land durchaus herausragende Ware an den ­Würstelstandeln zu genießen. Linz mit seinen Bosna- und Leberkasstandeln kommt einem da in den Sinn, mindestens ebenso aber ­Salzburg, wo zwischen dem Standl auf der legendären Schranne und der – nicht minder legendären – »Heißen Kiste«, einem mobilen Standl, das immer am Wochenende, bis spät in die Nacht, bei der Staatsbrücke der ­Kundschaft harrt, in Wien unvorstellbare Wurstqualität feilgeboten wird. Grandiose Weißwürste, geradezu schaumig zarte ­Frankfurter, herrlich pikante, mit Chili versetzte »Lange Scharfe« und, als Höhepunkt von Gourmet-Graden, die unvergleichlichen, tagesfrischen Frischen, die bis heute ungebrüht wie jene sagenumwobenen Münchner Würste gemacht werden, die einst, vor der Erfindung des Kühlschranks, das »Zwölfeläuten« nicht erleben durften, weil sie eben ganz roh und zart gesalzen waren.

Apropos München: Es ist nun einmal so, dass uns Bayern und Süddeutschland in Sachen Wurstkultur sehr nachhaltig heimleuchten. Dementsprechend erweist sich
die Nähe zum Bajuwarischen, die dem ­Salzburger, aber auch weiten Landstrichen Oberösterreichs nun einmal eigen ist, als echter Segen. So, wie es im Kärntner Gurktal dank der Nähe zu Italien eine Tradition des »luftgeselchten« Schinkens gibt, der eben, wie italienischer Prosciutto, nicht geräuchert, sondern luftgetrocknet wird, so gibt es in grenznahen Gebieten zu Bayern bis heute eine Tradition, die Wurst als ­Mittel zum stolzen Selbstverständnis zu erkennen, statt sie als willkommenen Empfänger solcher Fleischreste zu verstehen, die man in echt lieber nicht mehr zum Teil ­seiner selbst gemacht haben wollte.

Der »Alles Wurscht«-Stand am Wiener Börseplatz hat immer wieder echte ­Salzburger Würste vorrätig. Es lohnt aber, den Herrschaften hinter der Theke auch salzburgische Ernsthaftigkeit bei der Verabreichung abzuverlangen und darauf zu bestehen, dass die Würstel auch halbwegs frisch und heiß aus dem Kessel oder vom Plattengrill kommen. Dann nämlich können sie auch dem wurstgeplagten Wiener durchaus eine Ahnung dessen vermitteln, was echter Wursthimmel nach ­bajuwarischer Fasson alles an Herrlichkeiten zu bieten hat. Schade halt, dass der Stand zu fortgeschrittener Stunde, wenn der Würstler wahrhaft lebensrettend werden kann, immer schon geschlossen hat!


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Erschienen in
Falstaff Rezepte 06/2023

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Severin Corti
Severin Corti
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