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Essay: Genuss will Gesellschaft

Der Mensch ist ein Herdentier und erst durch die Kraft der Gruppe erlangte er jene Position, die ihn gegenüber allen anderen Spezies überlegen machte.

In der Erzählung »Ein Hungerkünstler« von Franz Kafka kauert ein hagerer Kerl einsam in einem eisernen Käfig. Nahrung lehnt der Mann ab. Er habe keine Speise finden können, erklärt er, die ihm zusage … Steppenwölfische Einzelgänger, fromme Säulenheilige und Eremiten, Fastenpropheten und Asketen verschließen sich der Welt, suchen in der Verlassenheit ihr Heil, Erkenntnis oder metaphysische Erleuchtung und verlieren nicht selten dabei den Verstand.

Sie bilden den radikalen Gegenentwurf zu einer Gesellschaft, in der sich die Menschen als soziale Wesen verstehen, die ihr Tagwerk, ihr Vergnügen, ihre Trauer und ihre Genüsse teilen – also nach ihrer evolutionären Bestimmung leben. Die Menschwerdung und der Prozess der Zivilisation sehen es nicht vor, dass Homo sapiens einsam durch die Welt streift und sein Glück in egozentrischer Verschlossenheit sucht. Ohne den arbeitsteiligen Prozess ist die moderne Welt gar nicht denkbar.

Gewiss, wenn der Trubel zu groß geworden ist, sehnen sich viele Menschen nach einer Phase, in der sie sich zurückziehen und sammeln können. Aber in aller Regel kehren sie nach einiger Zeit aus ihrer splendid isolation zurück und reihen sich wieder ein in die Gemeinschaft.

»Es ist die Gemeinsamkeit, welche eine menschliche Gesellschaft ausmacht.«

Das wurde besonders augenscheinlich in den Einschränkungen, die im Verlauf der Corona-Pandemie verhängt wurden. Die soziale Isolation, die in den Monaten der Lockdowns einsetzte, machte vielen schwer zu schaffen, vor allem psychisch. Nicht wenige glitten in die Depression ab, andere bekamen einen Lagerkoller. Erwachsene vermissten ihren Freundeskreis und ihre Kollegen, Kinder ihre Schulkameraden und Spielgefährten.

Es stellte sich rasch heraus, dass Homeoffice und Fernunterricht auf Dauer keine tauglichen Methoden sind. Es bedarf der sozialen Interaktion, um in seinen Tätigkeiten Effizienz an den Tag zu legen. Das gilt insbesondere, wenn sich neben allen anderen Übeln auch noch die Einsamkeit auf das Gemüt legt. Da lässt jede Schaffenskraft nach, Vergnügen kann kaum aufkommen. »Allein sein ist ärger als Ratten fressen«, singt André Heller – und er hat recht. Einzelgängertum lässt den Einzelnen in die Irre schweifen. Das Gemeinsame als Lebensprinzip macht sich vor allem dann bezahlt, wenn es darum geht, die Früchte seiner Arbeit zu genießen. Tafelfreuden verlangen geradezu nach Gesellschaft.

Man muss sich nur die langen Festtagstische vor Augen führen, an denen sich – nicht nur in Italien, aber dort gerade sprichwörtlich – auch ohne besonderen Anlass Familie und Freunde versammeln. Es werden dampfende Schüsseln aufgetragen, Speise um Speise, dazu Wein. Es herrscht ausgelassene Stimmung. Die Versammelten erfreuen sich an den verschiedenen Köstlichkeiten.

»Der Genuss, den sie erleben, schweißt sie zusammen.«

Für ein paar Stunden bilden sie eine verschworene Gruppe, die sich eins weiß mit sich und der Welt. Und das liegt nicht so sehr an den Gerichten – oft landet »nur« solide Hausmannskost auf den Tischen – sondern daran, dass die kulinarische Geselligkeit ein großes Gemeinschaftsgefühl erzeugt.

Verglichen dazu der einsame Phäake aus dem Gedicht von Josef Weinheber: Misslaunig stapft er von Gaststätte zu Gaststätte und stopft Unmengen an Gerichten in sich hinein. Das ist keine Freude, der Mann kompensiert lediglich durch gargantuesken Heißhunger den Mangel an Gemeinsamkeit.

In jedem Speiselokal steigt die Stimmung umso stärker, je besser es gefüllt ist. Befinden sich nur wenige Gäste an den Tischen, herrscht Tristesse. Man fragt sich, was für den dürftigen Besuch verantwortlich sein könnte. Und schon schmecken die Gerichte ein wenig fader und abgeschmackter, selbst wenn sie von hoher Qualität sein mögen.

»Der Mensch als soziales Wesen will seinen Genuss geteilt wissen. Er will sich mit anderen austauschen, wenn er in ein lukullisches Vergnügen eintaucht.«

Das ist eine Folge der evolutionären Entwicklung der Menschen. Sie sind, wie ihre Vorfahren, die Primaten, aus denen sie sich entwickelt haben, Herdentiere. Dieser absolute Wille zum Zusammenhalt hat der Menschheit über die Jahrtausende hinweg Überlegenheit über alle anderen Spezies beschert. Und dieses Überlebensprinzip der Gemeinsamkeit haben die Menschen immer stärker verinnerlicht, sodass es auf alle Aspekte des gesellschaftlichen Lebens übergriff.

Eben auch auf den Genuss, der ja ein relativ junges Phänomen ist. Und so ist es leicht erklärlich, dass in grauer Vorzeit, in der man nur in der Gruppe ein Tier erlegen konnte, die Jagdbeute auch in der Gruppe verzehrt werden sollte. Dieser Logik folgt auch heute das Genusserlebnis, selbst wenn das dem Gourmet kaum bewusst sein dürfte, wenn er sich mit seinen Freunden über ein Mahl hermacht. Es ist aber ein archaisches Erbe, dass man den Austausch sucht, die soziale Interaktion auf allen Ebenen.

Die ganze Zivilisation ist ja ein gigantisches Gemeinschaftswerk. Und so wie ein großes Kunstwerk erst seinen Wert erlangt, wenn es von vielen bestaunt wird, ist das auch in der Kochkunst: Es ist erst das Gemeinschaftserlebnis, das einen Esser in einen Genießer verwandelt.


Erschienen in
Falstaff Nr. 09/2021

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Joachim Riedl
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