Alte Traditionen und die Einflüsse spanischer Konquistadoren sind in Mexiko zu einer facettenreichen Kulinarik verschmolzen.

Alte Traditionen und die Einflüsse spanischer Konquistadoren sind in Mexiko zu einer facettenreichen Kulinarik verschmolzen.
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UNESCO-Weltkulturerbe: Das macht die mexikanische Küche so besonders

Im Mittelpunkt steht die Fusion vieler Zutaten. Bestes Beispiel: Die Mole.

Bis zu 75 Zutaten sind nötig, bis gute Mole ihre volle Kraft entfaltet. Sie ist ein komplexes Gericht, und ihre Stärke schöpft sie aus dem Aromenspiel von Chilis, Nüssen, Bohnen, ungesüßter Schokolade. Mal schmeckt sie scharf, mal süß, dann erdig. Für viele Mexikaner ist sie das unumstrittene Nationalgericht, ein kulinarisches Heiligtum.

Gebraut wird die dickliche Sauce, die in vielen Gerichten Verwendung findet, nicht nur in den Küchen der einheimischen Bevölkerung, auch in der Spitzengastronomie kommt sie auf den Tisch. Dass dem so ist, sagt viel über das kulinarische Selbstverständnis der Mexikaner aus. Die Küche des zentralamerikanischen Landes spiegelt seine bewegte Geschichte wider, sie ist geprägt von den Einflüssen alter indigener Kulturen und grausamer Eroberer aus Europa. Einflüsse, die sich über die Jahrhunderte zu einem aromatischen Gemisch verbunden haben. Diesfalls sogar im wahrsten Sinne des Wortes: Das Wort »Mole« geht auf die indigene Sprache Nahuatl zurück – und steht für »Mischung« oder Gebräu.

Die echte mexikanische Küche, ihre Essenz, ist im Ausland bis heute oft unbekannt. Maßgeblich verantwortlich ist dafür der nördliche Nachbar – die USA. Früh hat man sich dort mexikanischer Zutaten und Aromen bemächtigt und die »Tex-Mex-Küche« – eine Wortneuschöpfung aus »Texas« und «Mexiko« – geschaffen. Das verbindende Element waren anfangs die Spanier, die sich südlich der Grenze einst als Konquistadoren betätigten und sich später auch im nördlich gelegenen Texas niederließen. Dann pervertierte die Fast-Food-Industrie das »Tex-Mex« und exportierte es in alle Welt. Chili con Carne oder Nachos, die mit geschmolzenem Käse überbacken werden: All das ist, beteuern Traditionalisten, ist nicht wirklich mexikanisch.

Die mexikanische Küche lebt nicht von den klaren Aromen einzelner Produkte, sondern von der Fusion vieler Zutaten. Bestes Beispiel: das Nationalgericht Mole.
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Die mexikanische Küche lebt nicht von den klaren Aromen einzelner Produkte, sondern von der Fusion vieler Zutaten. Bestes Beispiel: das Nationalgericht Mole.

Der Amerikanische Traum

Heute sind es mexikanische Spitzenköche, die versuchen, den kulinarischen Nationalstolz hochzuhalten und den Menschen die ursprünglichen Rezepte ihrer Heimat (wieder) nahezubringen. Einer von ihnen: Carlos Gaytán. Dass sich seine Lebensgeschichte ausgerechnet wie der US-amerikanische Traum liest, mag ein Treppenwitz sein. Aber ein guter.

In ärmlichen Verhältnissen in der Kleinstadt Huitzuco geboren, zog er als junger Mann aus, um in Chicago die große Welt kennenzulernen. Er schlug sich illegal als Tellerwäscher durch. Gaytáns Traum: Er wollte Koch werden. In unbezahlten Praktika lernte er das Handwerk der klassischen französischen Küche, wurde Chef de Cui­sine, eröffnete sein eigenes Lokal, kochte ­irgendwann als Star vor Millionen Zusehern im US-Fernsehen.

Im Jahr 2013 verlieh der Guide Michelin Carlos Gaytán seinen ersten Stern. Es war nicht nur für ihn der erste. Nie zuvor wurde ein Mexikaner mit dieser Auszeichnung geehrt. Gaytán aber geriet in eine Sinnkrise, verließ Chicago und kehrte nach Mexiko zurück, um sich dort der Küche seiner Vorfahren zu erinnern, die ihn einst sein Großvater gelehrt hatte. Dieser teilte den jungen Carlos nach der Schule zur Feldarbeit ein, wo man Erdnüsse, Melonen und Bohnen erntete. Man ging auf die Jagd, wo man die Beute im Wald ausnahm, das Fleisch zubereitete und am Lagerfeuer briet. Wie groß der Wildbestand bis heute ist, zählt zu den vielen Geheimnissen des Landes.

Zurück in Mexiko versuchte sich Gaytán  also an einer ehrlich regionalen Küche, frei von Klischees. Er reiste umher, lernte, und kehrte nach Chicago zurück, um den US-Amerikanern sein Mexiko zu erklären. »Mehrere Teller in der Mitte des Tisches, und jeder nimmt, was ihm gefällt. Ein echtes mexikanisches Sharing-Konzept, das wollte ich«, erzählt Gaytán in einem Interview. Er realisierte es im »Tzuco«, das er bis heute in Chicago führt.

Gaytán mariniert dort Schweinshaxe mit Zimt, Avocadoblättern, Mandeln und Knoblauch und schmort sie über Stunden in Bananenblättern oder grillt Red-Snapper mit Nori-Algen. Den Gästen gefällt es. Heute gilt der Spitzenkoch als einer der wichtigsten Kulinarik-Botschafter seiner Heimat.

Streetfood: Heute ist die mexikanische Küche sehr fleischreich – ein Erbe der spanischer Eroberer.
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Streetfood: Heute ist die mexikanische Küche sehr fleischreich – ein Erbe der spanischer Eroberer.

Indigene Hochkultur

Für den größten Bruch im kulinarischen Selbstverständnis der Mexikaner sorgten freilich nicht die US-Amerikaner, sondern schon viel früher die Spanier. Ihnen ist es geschuldet, dass die Küche des heutigen Mexiko so fleischlastig ist. Die präkolumbische Küche der Region wurde von indigenen Hochkulturen geprägt, die mit ganz anderen Grundzutaten kochten. Mexiko ist der Ursprung von Avocado, Tomaten, Chili, Mais, auch von Kakao und Vanille. Vor allem der Mais galt als Basis aller Gerichte, weshalb die Azteken einen eigenen Maisgott verehrten – den jugendlichen Cinteotl. Und das Fleisch? Nabelschwein, Hase, Nagetiere, Leguane.

Erst durch die Eroberung und Kolonialisierung durch die Spanier ab dem 15. Jahrhundert hielten Schweine- und Rindfleisch Einzug. Reis und Zucker ebenso. Weizen sollte den Mais ersetzen, zumal Letzterer für die Bewohner eine religiöse Bedeutung besaß. Die Spanier scheiterten, weil der Mais in dem Klima besser gedieh als der Weizen. Während das Volk nun Rindfleisch aß, gönnte sich die reiche Elite nach spanischem Vorbild Hammelfleisch. Im 19. Jahrhundert stieg der Einfluss der französischen Küche. Rind war nun auch der Reichen liebste Speise, Schweineschmalz und Butter wurden vom Olivenöl verdrängt.

Von der UNESCO geehrt

Dabei hätten auch die Europäer so einiges von der traditionellen mexikanischen Küche lernen können: Sie ist »ein umfassendes kulturelles Modell, das die Landwirtschaft, rituelle Praktiken, uralte Fertigkeiten, kulinarische Techniken und die Sitten und Gebräuche der angestammten Gemeinschaft umfasst», hielt zuletzt auch die UNESCO fest. Sie definierte die mexikanische Küche vor 13 Jahren als Weltkulturerbe. Gemeinsam mit der französischen Küche war sie die erste der Welt, der diese Ehre zuteil kam.

Vor allem in der Landwirtschaft bewiesen schon die alten Mayas Kreativität und Klugheit: Sie schufen sogenannte »Milpas«, also Felder, auf denen drei Pflanzen – Mais, Bohne, Kürbis – gemeinsam angebaut werden, um eine Art Symbiose einzugehen. Der Mais dient den Bohnen als Rankhilfe, die Bohnen liefern dem Mais Stickstoff, die Blätter des Kürbisses bedecken den Boden und verhindern so Austrockung. Auch die Milpas fanden die Anerkennung der ­UNESCO, ebenso wie die »Chinampas« (von Menschenhand geschaffene Anbau­flächen in Seengebieten), die Nixtamalisierung (das Kalken von Mais, wodurch sein Nährwert erhöht wird) und einzigartige Geräte wie mexikanische Mahlsteine und Steinmörser.

Der Mörser führt auf direktem Wege zurück zur Mole, dem Nationalgericht. »Eine alte Frau sagte mir einmal, die wahre Geheimzutat sei der Mörser«, erinnert sich Luc Liebster. Der Schweizer ist Sous-Chef im »Pujol« in Mexiko-Stadt. Das Lokal rangiert auf Platz 13 der »The World’s 50 Best«-Liste, Chef Enrique Olvera gilt als einer der kreativsten Köpfe der zeitgemäßen mexikanischen Küche.

Klar, dass auch in seinem Lokal die Mole auf der Speisekarte steht – und zwar immer, auch wenn das sonstige Menü neu geschrieben wird. Der Klassiker »Mole madre, mole nuevo« besteht aus zweierlei Saucen. Einer neuen, jungen. Und der »madre«, also der Mutter-Mole. Olvera selbst setzte sie im Jahr 2013 an, sie ist mittlerweile fast 3.000 Tage alt und wird, bevor sie zur Neige geht, mit neuen Zutaten aufgekocht.»Ein komplexes Geschmackserlebnis«, sagt Liebster. Und was hat es nun mit dem Mörser auf sich? Ein richtiger Steinmörser wird nie völlig ausgewaschen. »Es bleibt immer noch eine Geheimzutat vom letzten Mörsern drin, das gibt den Kick.«

Ursprüngliches Oaxaca

Die besten Moles, da sind sich die Mexikaner einig, genießt man im Bundesstaat Oaxaca im Süden des Landes. Auch Tamales (mit Fleisch oder Käse gefüllter Maisteig, der in Bananenblättern gedämpft wird) oder Chapulines (geröstete Heuschrecken) probieren Gourmets am besten dort. Während in Mexiko-Stadt internationale Einflüsse am stärksten zu spüren sind und kulinarische Erlebnisse in Yucatán oft einen touristischen Touch mitbringen, scheint in Oaxaca die Liebe zur Authentizität größer zu sein.

Unverzichtbar ist die Tasse heiße Schokolade. Einheimische trinken sie zum Frühstück oder Abendessen. Die Ureinwohner betrachteten sie als Aphrodisiakum, der aztekische Kaiser Moctezuma trank sie der Legende zufolge 50 Mal am Tag aus einem Kelch aus Gold.

Kein Wunder also, dass sie auch eine zentrale Zutat der Mole ist.


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Benny Epstein
Autor
Christoph Schwarz
Christoph Schwarz
Chefredakteur
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