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Georg Riedel: «Das Glas muss funktional sein»

Der wohl bedeutendste Glasmacher nennt im Falstaff-Interview eine einfache Formel fürs Auffinden der richtigen Glasgröße – und verrät, welche Weine er selbst am häufigsten dekantiert.

Georg Riedel steht einem Unternehmen vor, das weltweit in 125 Ländern präsent ist und im vergangenen Jahr einen Jahresumsatz von ca. 280 Millionen Franken erzielte. Zählt man die Marken Nachtmann und Spiegelau mit, gibt Riedel mehr als tausend Menschen Arbeit. Dutzende nationale und internationale Auszeichnungen säumen den Weg des Tiroler Unternehmers, von «Decanter Man of the Year» (1996) über den Ehrenpreis der Republik Österreich (2006) bis zum «Distinguished Service Award» des amerikanischen Magazins «Wine Spectator» (2019). Im Besprechungszimmer der Glasmanufaktur in Kufstein nimmt sich Riedel, der am 16. Dezember einen runden Geburtstag feiert, Zeit für eines seiner raren Interviews, rückt noch die elegant gebundene Krawatte zurecht und schenkt sich ein Glas Wasser ein.

Falstaff: Herr Riedel, kaum jemand weiss so viel über Weingläser wie Sie. Wie können wir uns den Gläserschrank bei Georg Riedel zu Hause vorstellen?
Georg Riedel: Da sind nur Prototypen drin! Also Glasformen in der Erprobung. Ich trinke niemals Wein, ohne zugleich an einer Glasform zu arbeiten. Nie zufrieden zu sein, das ist eines dieser Themen, die mich auszeichnen.

Wie viele Formen haben Sie im Lauf Ihres Lebens getestet, haben Sie da eine annähernde Zahl im Kopf?
Nein. Schauen Sie, die Zahl ist auch gar nicht wichtig, denn alle Glasformen sind heute Claus-Riedel-inspiriert. Sie kommen alle aus der Idee, den Wein zwar nicht zu verbessern – das können wir nicht –, aber ihn so auf den Gaumen zu lenken, dass die Emotion gesteigert wird. Die kleinsten Variationen führen da zu den unglaublichsten Ergebnissen. Und die Faszination ist, dass dieser Effekt nicht individuell ist, sondern dass alle dieselbe Emotion haben.

Form follows function also.
Ja, genau – für uns muss ein Glas nicht hübsch sein, zumindest nicht in erster Linie, sondern es muss funktional sein. Wenn Sie als Winzer in der Neuen Welt sind, nicht im Burgund, in Bordeaux oder der Toskana, wo Sie auf die Rebsorten verpflichtet sind, sondern wenn Sie in die Welt hinausgehen und Geld in die Hand nehmen, dann untersuchen Sie erst den Boden und entscheiden dann die Rebsorte. Und dann gibt es ein Resultat, das viele Konsumenten insofern ignorieren, als sie alles aus einem Glas trinken. Und da fängt mein 40-jähriger Kampf an, den Konsumenten dazu zu bewegen, nachzudenken, wie sein Return of Investment beim Wein aussieht.

© Manfred Klimek

Sie sprechen vermutlich von Genusswert als Return of Investment.
Jeder Wein kommt mit einem Preis, mal grösser, mal kleiner. Und wenn man ihn trinkt, hat man eine Erwartungshaltung, die wird entweder getroffen oder überboten – oder man ist enttäuscht. Das Interessante ist aber, wenn der Wein untrinkbar ist: Haben Sie dann schon mal jemanden sagen hören, das Glas sei schuld?

Nein, ganz bestimmt nicht.
Sie würden immer dem Wein die Schuld geben. Dabei ist das Glas zentral für den Weingenuss. Wir haben zum Beispiel Säure, Mineralität und Bitterkomponenten in einem Wein. Und Frucht. Diese Komponenten sind balanciert, wenn keine die anderen dominiert. Das ist die Kunst des Glasmachers: das, was der Winzer mithilfe des Rebgartens in die Flasche gefüllt hat, so zu optimieren, dass Harmonie entsteht.

Neulich habe ich eine historische Studie gelesen, in der stand, dass das durchschnittliche Weinglas im Lauf der letzten Jahrhunderte stetig grösser geworden sei.
Ich kenne dieses Argument, in England gibt es sogar Bestrebungen, in der Gastronomie die Grösse der Weingläser zu begrenzen. So ein Unsinn! Wir machen doch grosse Gläser nicht, um eine grössere Menge einzufüllen, die ideale Menge ist immer 100 Milliliter, unabhängig von der Grösse des Glases. Der Rest ist Resonanzkörper, man bekommt eine andere Duftentfaltung.

Wie erkenne ich als Laie zu Hause, wie gross der Kelch sein sollte, den ich auswähle?
Stellen Sie sich vor, Sie haben einen Grünen Veltliner oder einen Sauvignon ohne Holzkontakt, der hat zwei Komponenten: Hefe und Saft. Solch ein Zwei-Komponenten-Wein benötigt kein grosses Glas. Die dritte Komponente kommt aus dem Fass: die oxidative Wirkung des Ausbaus plus Toasting. Und da hört es noch nicht auf. Die malolaktische Gärung macht den Wein cremig. Für drei Komponenten brauchen Sie schon ein etwas grösseres Glas. Dann kommt noch die vierte Komponente, das ist bei Rotwein der Extrakt aus der Beeren-schale. Dafür nehmen Sie noch mal einen grösseren Kelch.

Ein Orange Wine wäre dann nach dieser Gliederung ein Drei-Komponenten-Wein, aber ohne Fass und mit Schale?
Bei Orange bin ich kein Fachmann. Sicher, Georgien … Wenn die Nachfrage da ist, dann wird es irgendwann auch mal ein Riedel-Glas «Orange» geben.

Die zehnte und elfte Generation ihrer Familie: Georg Riedel und Sohn Maximilian.
© Riedel Glas
Die zehnte und elfte Generation ihrer Familie: Georg Riedel und Sohn Maximilian.

Stichwort Karaffen.
Karaffen verwendet man traditionell, um Sediment zu trennen. Aber wir trinken heute oft Weine, die sehr reduktiv aus-gebaut sind, die haben einen enormen Gehalt an schlafender Kohlensäure. Und Kohlensäure schmeckt sauer. Beim Dekantieren tauschen Sie Kohlensäure gegen Sauerstoff aus. Dadurch wird der Wein runder, auch im Duft anders. Aber nicht jeder Wein profitiert davon. Und es hängt auch von der persönlichen Vorliebe ab. Wenn jemand sagt, ich liebe das Nervige des Cabernets, dann wird er keinen Cabernet dekantieren.

Dekantieren Sie selbst häufiger Weiss- oder Rotweine?
Ich dekantiere fast alle meine Rotweine,  und ich dekantiere süssen Weisswein. Da versuche ich den kleinen Schimmer vom Schwefel wegzunehmen, der geht in einer Karaffe wunderbar weg.

Beim Thema Süsswein schliesst sich die Frage an: Gibt es eigentlich auch Riedel-Karaffen für halbe Flaschen?
In der Tat, und zwar ganz neue! Mein Sohn Max hat eine ganze Serie davon gemacht.


Ulrich Sautter
Ulrich Sautter
Wein-Chefredakteur Deutschland
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