© Roter Ochse

Wirtshaustradition: Alles Wirt gut

Das Wirtshaus ist seit Jahrhunderten Teil unserer Kultur. Doch die Zeiten sind schwieriger geworden. Dabei ist der Gedanke der Gastlichkeit, der es einst groß gemacht hat, mehr als erhaltenswert. Was das echte Wirtshaus ausmacht – und wo man es heute noch findet.

»Ein Mensch, der keine Stamm­tischerfahrung gemacht hat«, sagte mal der große Wirtshauskenner und Kabarettist Gerhard Polt, »der hat vom Leben nichts gelernt, der wohnt in anderen Dimensionen.« Wer würde ihm da widersprechen wollen? Im Wirtshaus konnte man immer schon Erfahrungen machen wie nirgends sonst. Nicht nur, weil man sich hier alltäglich traf, sich austauschte und stritt. Sondern auch, weil hier die Feste gefeiert wurden, die als Eckpfeiler eines jeden Lebens herhalten: Taufen, Hochzeiten, Beerdigungen. Das Wirtshaus war über Generationen hinweg der zentrale Ort des Lebens.

Doch schon seit einigen Jahren verliert die einstige Institution an Bedeutung. Nicht erst seit der Coronapandemie und den Lockdowns trocknen in Deutschland über hölzernen Tresen viele Zapfhähne aus. Etwas scheint sich verschoben zu haben. Dabei lohnt es sich, für den Erhalt dieser Kulturstätten zu kämpfen. Und das nicht nur wegen ihrer Geschichte.

Der deutsche Klassiker

Drückt man die Tür des »Fraunhofer« in München auf, kommt einem sofort dieser Geruch entgegen, der schon alles trägt, was ein Wirtshaus verspricht. Diese Mischung aus Bier, Essen und Menschen. Dazu das Gemurmel, die Gesprächsfetzen, das ­Lachen der Gäste, die hier verteilt an den Holztischen sitzen. Eine Atmosphäre, die für Gemütlichkeit, steht, Geselligkeit, ja irgendwie auch Gesellschaft. Ein Begriff, der oft abstrakt wirkt. Wenn man sich aber zu einer der Tischgesellschaften dazusetzt, weil man das hier eben einfach so macht, dann wird aus dem Begriff auf einmal ein Gefühl.

Wird es jemals wieder so sein? Das Wirtshaus diente über Generationen hinweg als zentraler Lebensmittelpunkt.
© Petra Homeier
Wird es jemals wieder so sein? Das Wirtshaus diente über Generationen hinweg als zentraler Lebensmittelpunkt.

Seit genau 250 Jahren wird im »­Fraunhofer« Bier ausgeschenkt, die holzvertäfelten Wände, die Bilder und Geweihe – das alles strahlt eine gewisse Zeitlosigkeit aus. Tradition eben. Auch wenn niemand so genau weiß, was deutsche Identität sein soll – im Ausland ist man sich sicher: Wirtshaus, Bier und Tracht. Das liegt daran, dass einige Bayern im 19. Jahrhundert schon wussten, wie man gute Werbung macht. Auf den Weltausstellungen nämlich. Wenn man damals internationale Aufmerksamkeit wollte, war das der Ort, an dem sie zu generieren war. Also stellten verschiedene bayrische Brauereien dort aus. In London, Paris und Chicago zelebrierten sie die ­bayrische Gemütlichkeit und verkauften sie als den deutschen Klassiker – und die Identität war geschaffen. In der Folge besuchten viele internationale Gäste deutsche Städte auf der Suche nach dem, was ihnen die Ausstellungen versprochen hatten. Und auch wenn das Wirtshaus-Gefühl bis dahin noch nicht als Tradition wahrgenommen wurde, so tat man wenigstens so. War ja gut fürs Geschäft.

Wirtshaussterben

Streift man durch die Heidelberger ­Altstadt, dann dringt Tradition durch jede Pore des Körpers: das Kopfsteinpflaster, der Sandstein und natürlich das Schloss, das über allem steht wie der Hüter der Geschichte. Besonders intensiv aber ist die Erfahrung im Gasthaus »Zum Roten Ochsen«. An den Wänden hängen Bilder von alten Stammgästen: Burschenschaftler und Studenten haben ihre Spuren hinterlassen. Nicht nur metaphorisch, sondern auch ganz plastisch. Mit Schlüsseln ritzten sie Botschaften in die Tische. Fährt man mit den Fingern darüber, spürt man den ganzen jugendlichen Wahnsinn, die tiefen Freundschaften, die Liebe, die die Motivation für die Zeichen im Holz lieferten. In der sechsten Generation ist Philipp Spengel hier Wirt, seine Familie führt den »Ochsen« schon seit 185 Jahren. Doch keine seiner Töchter scheint ihm folgen zu wollen. Was das für die Zukunft heißt?

Historische Stätte: Rund 300 Fotografien, Geweihe, Bierkrüge und Trinkhörner zieren den »Roten Ochsen« in Heidelberg.
Historische Stätte: Rund 300 Fotografien, Geweihe, Bierkrüge und Trinkhörner zieren den »Roten Ochsen« in Heidelberg.

Wenn man so will, steht diese Ungewissheit exemplarisch für den Status des ­Wirtshauses in Deutschland. Nicht erst seit der Pandemie verzeichnet Deutschland ein besorgniserregendes Wirtshaussterben. Lange her ist die Zeit, in der ein Dorfwirt eine höhere Stellung hatte als der Bürgermeister. Als das Wirtshaus verlässlich gesellschaftsübergreifend Menschen zusammengebracht hat. Da saß der Großbauer neben dem Lehrer und der neben dem Trinker. Die Vermögenden neben den Armen, die gebildeten neben den einfachen Menschen.

 

Tradition ist die Weitergabe des Feuers, nicht die Anbetung der Asche

 

Das älteste Wirtshaus der Welt steht in Eilsbrunn in der Nähe von Regensburg. Das »Röhrl« öffnete 1638 für ­hungrige und durstige Gäste. Und seither hat es nichts von seinem Charme eingebüßt. Der knarzende Holzboden, die fast 100-jährigen Tische, aber auch die Bereitschaft, sich neuen ­Wegen zu öffnen. Er sei schon immer technikbegeistert gewesen, sagt Muk Röhrl, der das Gasthaus schon in der elften Generation führt. Deshalb habe er gar nicht lange nachgedacht, sondern während der Pandemie kurzerhand einen Twitch-Stream aus dem Wirtshaus gestartet. Das ist ein ­Videoformat, mit dem Röhrl in direkten Kontakt mit seinen Gästen kommt. »Da kommen schon Gäste aus ganz Deutschland, aus Österreich und der Schweiz, weil die uns von Twitch kennen«, sagt er. »Und die kommen ja nicht allein, sondern bringen ihre Familie mit, dann ist wieder ein Tisch voll.« Auf seiner Website zitiert Röhrl den Komponisten Gustav Mahler: »Tradition ist die Weitergabe des Feuers, nicht die Anbetung der Asche.« Und wenn man ihm zuhört, spürt man, dass es ihm gelungen ist, sich vom ­Feuer der Tradition anstecken zu lassen.

Das älteste Gasthaus der Welt kann moderner sein als manche Szenebar.
Das älteste Gasthaus der Welt kann moderner sein als manche Szenebar.

Wie lange geht das noch weiter?    

Viele Betriebe haben die Pandemie nicht überlebt. Während es danach zumindest auf den ersten Blick einen Aufschwung des Geschäfts gab, zeigt der zweite Blick, dass davon maßgeblich Cafés, Caterer und Systemgastronomen profitiert haben. Die personalintensiven Wirtshäuser haben es weiter schwer. Vor allem im ländlichen Raum. Dabei nehmen sie gerade dort immer noch die Rolle eines zweiten Wohnzimmers ein. Genau das wollen Anja Pawlik und Uwe Junge, solange es geht, bewahren. Sie führen eines der ältesten Gasthäuser in Saarbrücken: den »Adler«. Er ist seit Jahrzehnten Anlaufstelle für die immer gleichen Menschen und Familien, weil sie wissen: »Hier kennt man sich« – und das über die Landesgrenzen hinweg. Für diese Tradition spielt die Nähe zu Frankreich eine besondere Rolle. Jünger wird aber auch hier niemand – weder Gäste noch Wirte. Man fragt sich: Wie lange geht das noch weiter?    

In der urig-gemütlichen Stube im »Adler« fühlt man sich zu Recht in die Kindheit zurückversetzt. Die Atmosphäre ist wohlig warm – wie bei Oma.
In der urig-gemütlichen Stube im »Adler« fühlt man sich zu Recht in die Kindheit zurückversetzt. Die Atmosphäre ist wohlig warm – wie bei Oma.

»Herausforderungen für die Branche hat es in der Vergangenheit zu jeder Zeit und in jeder Generation gegeben«, schreibt die Präsidentin des Bayrischen Hotel- und Gaststättenverbands, Angela ­Inselkammer, in ihrem Aufsatz »Wirtshaussterben? ­Wirtshausleben!«. Nach dem Zweiten Weltkrieg sei es der Wandel von der Agrar- zur Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft gewesen, der dem Wirtshaus zusetzte, weil sich die Ernährungsgewohnheiten verändert hatten. In den 70ern entstanden Vereins- und Pfarrheime, die dem Wirtshaus Konkurrenz machten. Denn plötzlich fanden Feiern nicht mehr automatisch beim Wirt statt. Später kamen Promillegrenzen beim Autofahren und Rauchverbot dazu. Das alles will heißen: Nur weil eine Institution wie das Wirtshaus in eine Krise gerät, in der sie sich einen neuen Platz, ein neues Selbstverständnis erarbeiten muss, bedeutet das noch nicht, dass es mit ihr zu Ende geht. Manchmal muss man einen Schritt zurücktreten, um ein klares Bild zu bekommen. Dann merkt man wie Muk Röhrl, dass die Zukunft ernst genommen werden will, dass auch das älteste Gasthaus der Welt moderner sein kann als manche Szenebar. Und manchmal sieht man mit etwas Distanz, dass sich einfach alles ändern muss.

BESTÄNDIGKEIT

Das perfekte Beispiel für ein Wirtshaus, das sein eigenes Ende überlebt hat, ist das »Kleine Seligeneck« in Frankfurt am Main. Nachdem es – genau wie große Teile der Altstadt – im Krieg zerstört worden war, wurde es 2018 originalgetreu wiederaufgebaut. Ein Haus mit klassizistischen Elementen und hervorspringenden Gesimsen aus rotem Mainsandstein, die zwischen den einzelnen Geschossen liegen. Ein sehenswertes historisches Bauwerk wie aus dem Bilderbuch und der ideale Ort für ein traditionelles Wirtshaus, das sich der heimatlichen Küche verschrieben hat, die mit Vitello tonnato, Maultaschen, Burgunder Weinbergschnecken und Rumpsteak vom US-Beef auch gekonnt auch über den lokalen Tellerrand schaut. Echt Frankfurt eben: eine kosmopolitisch bunte Mischung aus Regionalität und Internationalität.

Statt Schnitzel, Sauce hollandaise und Pommes gibt es im Gasthaus »Zur Erholung« Winzerabende, Workshops, Kochkurse und Dinnerclubs.
© Julia Schumacher
Statt Schnitzel, Sauce hollandaise und Pommes gibt es im Gasthaus »Zur Erholung« Winzerabende, Workshops, Kochkurse und Dinnerclubs.

Eine knappe Autostunde südlich von Hamburg hat sich ein Geschwisterpaar darangemacht, der Gasthauskrise mit Kreativität und einer Qualitätsoffensive zu begegnen. Anne und Bernd Ratjen ­betreiben das Gasthaus »Zur Erholung« in Uetersen. Das wurde 1862 eröffnet, ­Bruder und Schwester sind die sechste Generation. »Wir wollten nicht einfach nur immer billiger werden, sondern haben uns für unsere Prinzipien entschieden: Qualität und Verantwortungsbewusstsein«, sagt Bernd Ratjen. Das Gasthaus trägt das Bioland-Siegel, ist Mitglied im Erzeuger- und Gastronomenverband Regionalwert AG und Mitglied bei Slow Food.

Innovationen als Lebenselixier

Das klassische À-la-carte-Geschäft hat Bernd Ratjen aufgegeben, reguläre Öffnungszeiten gibt es nicht mehr. Statt Schnitzel, Sauce hollandaise und Pommes zu Niedrigpreisen gibt es hier: Winzerabende, Workshops, Kochkurse und Dinnerclubs. Der Feinkostladen des Gasthauses heißt »Tante-Anne-Laden«, in Anlehnung an Tante Emma, nur ist die Tante seine Schwester und heißt nicht Emma, sondern Anne. Neben Weinen gibt’s hier Gulasch, Suppen, Labskaus, Sauerfleisch. »Wir ­verarbeiten überwiegend ganze Tiere, und da ist es für uns eine perfekte Gelegenheit, das Fleisch auch zu hochwertigen Fertig­gerichten zu verarbeiten.«

Man kann es nur empfehlen: sich an den Tisch des nächstliegenden ­Wirtshauses zu setzen, sich ein Bier zu bestellen und daran erinnert zu werden, dass wir alle in eine Geschichte eingebunden sind, die lang vor uns begann. Wer hier wohl alles schon saß! Dann denkt man daran, dass es in den Hunderten von Jahren, in denen hier Bier ausgeschenkt wurde, in denen Feste gefeiert und Tote betrauert wurden – dass es in all dieser Zeit ständig Krisen gab, von denen Menschen dachten, es gäbe kein Danach. Und dann sitzt man da, wischt sich mit dem Handrücken den Schaum vom Mund, weil man das hier eben so macht, und fühlt etwas mittlerweile fast Verlorengeglaubtes: Hoffnung.


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Sebastian Späth
Chefredakteur Deutschland
Autor
Anna Wender
Redakteurin
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