Das »Wirtshauslabor« Bad Ischl: Ein Lokal wie aus dem Reagenzglas.

Das »Wirtshauslabor« Bad Ischl: Ein Lokal wie aus dem Reagenzglas.
© Edwin Husic / courtesy Kulturhauptstadt Bad Ischl Salzkammergut 2024

Wirtshaus 2.0: So machen junge Gastronom:innen das Gasthaus zukunftsfit

Ein Streifzug durch sechs unkonventionelle Adressen mit großer Raffinesse.

Von »glücklichen Stunden« schwärmte der streitbare österreichische Schriftsteller Thomas Bernhard. Glückliche Stunden, die er in heiterer, natürlicher Ausgelassenheit im Wirtshaus verbracht hatte. Seither sind einige Jahre ins Land gezogen – und das Wirtshaussterben ist zum geflügelten Wort geworden.

Da braucht es kreative Konzepte. Und so häufen sich etwa die Meldungen von Dorfgemeinschaften, die ihr leerstehendes Wirtshaus kurzerhand kaufen und selber betreiben. Das Bedürfnis nach dem Wirtshaus als Ort der Zusammenkunft, als Ort des bodenständigen Genusses ist nach wie vor groß. Und so entstehen parallel zu den Sterbeklagen immer mehr Lokale, die dem Wirtshaus neues Leben einhauchen.

Die künstlerische Seite der Kulinarik: Bei EAT±ART im »Bürstenbinder« speist man aus Kunstinstallationen.
Foto beigestellt
Die künstlerische Seite der Kulinarik: Bei EAT±ART im »Bürstenbinder« speist man aus Kunstinstallationen.

Der Frage, wie so ein zeitgemäßes Wirtshaus aussieht, geht man auch im österreichischen Bad Ischl nach. »Wirtshauslabor« nennt sich das Projekt, das im Rahmen des europäischen Kulturhauptstadtjahres entstand. Fast ein Jahr lang machte sich eine Klasse der dortigen Tourismusschule Gedanken über das Wirtshaus der Zukunft.

Das Ergebnis: Ein luftig eingerichtetes Lokal mit offener Küche und kurzer Speisekarte, mit rausgeputzten alten Holzmöbeln und junger Kunst an den Wänden direkt am Bahnhof, in prächtigen Räumen.

Das Wirtshaus, eine altmodische und überholte Institution? »Finde ich gar nicht«, sagt der 17-jährige Schüler Florian Neubauer. Aber: »Man muss schon mit der Zeit gehen.« Für die Jugendlichen heißt das traditionelle Wirtshausgerichte aus saisonalen Zutaten in bester Qualität. Vegane Pink Pasta statt ödem Salatteller. Ein pflanzenbehangener Holztresen, geschlechtsneutrale Toiletten. 70 Jahre alte Holztische und »gut eingesessene Wirtshaussessel«. Ein Großteil des Mobiliars stammt aus leerstehenden Lokalen, Wirtshäusern, die gestorben sind.

© Edwin Husic, courtesy Kulturhauptstadt Bad Ischl Salzkammergut 2024

»Die Kulinarik ist eines der größten Kulturgüter der Gegend«, sagt der Koch Christoph »Krauli« Held, der das Projekt betreut. »Aber wir sind unglaublich schlecht aufgestellt.« Gründe gibt es viele: veränderte Freizeitgewohnheiten, Preissteigerungen, Fachkräftemangel und in der Folge nachlassende Qualität. »Ein Teufelskreis.«

Im »Genusslabor« wollen sie den Bogen spannen zwischen Tradition und Moderne. Das Interesse war schon vor der Eröffnung groß. »Wir wurden dauernd von neugierigen Leuten bei der Arbeit gestört«, meint Schülerin Katharina Vogrin lachend. Früher habe sie sich mit Freundinnen – »Krauli hör weg!« – oft bei McDonald’s getroffen. In ein Lokal wie das ihre aber würden sie auch gehen. Ein Wirtshaus, ist der Koch überzeugt, spricht alle an. »Jung, alt, bunt, grantig. Einer kommt im Arbeitsgewand, daneben sitzt der Notar im Anzug.« Nur: Man müsse sich ständig neu erfinden.

Im »Rosi« wird Kalb im Huhn serviert.
© Marie Christine Gerber
Im »Rosi« wird Kalb im Huhn serviert.

Kampfzone urbaner Raum

Das gilt auch für das Wirtshaus im urbanen Raum. Es ist weniger sichtbar, doch auch dort ging die Zahl in den vergangenen Jahren zurück. »So schnell aber wird das Wirtshaus nicht aussterben«, ist Markus Stöckle überzeugt. Der Koch betreibt ein bayerisches Wirtshaus in Zürich, mit dem er beweist, dass Wirtshausküche ebenso attraktiv sein kann wie Casual-Fine-Dining, Gourmet-Fast-Food oder Fusion-Küche.

Als »neo-bayrisches Exploratorium« beschreibt er sein Lokal »Rosi«, benannt nach »der Rosi«, der ältesten Kuh seines Vaters. Der gebürtige Allgäuer erinnert sich noch gut an die Wirtshausbesuche seiner Kindheit: »Der Kiesel in den Ohren beim Betreten eines Biergartens. Der Geruch von Bier, Kraut und Braten. Musikanten und Ständchensprecher, die für lustige Momente in warmen Stuben sorgten.« Bevor er kulinarisch in die Heimat reiste, musste er erst ins Ausland ziehen. Im Drei-Sterne-Lokal »The Fat Duck« beschäftigte er sich intensiv mit der englischen Küche. Dabei entstand der Wunsch, dies auch mit der Eigenen zu tun. Und so liest sich die Speisekarte im Rosi wie eine Hommage an die bayerische Kindheit: Die »werte Frau Mama, deren Küche bis heute die Beste ist«, ist mit ihren Kässpätzle verewigt, vom Leibkoch König Ludwigs stammt das mit Kalbsfarce gefüllte Huhn. Auch der »Onkel Seppi aus Murnau« hat ihn mit allerhand Familienrezepten und Geschichten inspiriert.

Abschied von Dogmen

Das Wirtshaus versteht Stöckle als »kulturellen Knotenpunkt« einer Gesellschaft. Ein Stück weit sei es auch Theater, meint er und zitiert die bayerische Kabarettlegende Gerhard Polt: »Der Mensch, der keine Stammtischerfahrung hat, hat vom Leben fast nichts gelernt.« Um diesem Auftrag gerecht zu werden, brauche es den respektvollen Blick in die Vergangenheit genauso wie jenen in die Zukunft. Das stete Hinterfragen des eigenen Schaffens, spielerisch, befreit von Dogmen. Dogmatisch geht es im »Rosi« ganz und gar nicht zu. Da landen tätowierte Schweinsbraten und gepiercte -ohren auf dem Teller. Da stehen Fragen nach dem »Aromaprofil einer Lederhose« am Beginn der Gerichtentwicklung. Und zum Frühschoppen mit Weißwurst gibt’s Kaviar statt süßen Senf. Die einzige Konstante in der Tradition, meinte Stöckle, ist Veränderung. Oder, um es bayerisch auszudrücken: »Scheiss da nix, dann feid da nix.« Denk dir nichts, dann passiert auch nichts.

Bodenständiges in Topqualität, das ist ein Konzept, das man in der Gastronomie immer häufiger sieht. In Wien verwandelten zwei Freunde aus der Spitzengastronomie das alteingesessene Beisl »Zum Reznicek« in ein zeitgemäßes Wiener Wirtshaus mit Gourmet-Cordon-bleu und eleganter Käsevitrine. In Berlin serviert das Sternelokal »Nobelhart & Schmutzig« unter der Woche Schweinsbraten und -schnitzel vom regionalen Bio-Schwein.

Auch Vadim Otto Ursus, der seit 2019 mit seinem »Otto« die Berliner Gastroszene begeistert, hat sich der bodenständigen Hausmannskost gewidmet. Der Trend, meint er, gehe zur einfachen Küche. ­Vielleicht, weil die Leute in Krisenzeiten Lust auf Vertrautes hätten. Vielleicht, weil sie nach vielen Jahren des »immer zugespitzter, immer ausgefallener« gesättigt seien. Im Frühjahr 2023 eröffnete er mit zwei Bekannten aus dem »Otto« das »Trio«. Dort gibt es »Gerichte, die man kennt«. Gerichte, die Ursus und sein Team selbst gerne essen: Handkäs mit Musik, Grünkohl mit Pinkel, Backfisch.

Anders als im »Otto«, wo die Speisen komplex und immer anders sind, soll das »Trio« ein Ort sein, an dem man zusammenkommt, ohne »zu viel über das Essen nachdenken zu müssen«. Ein klassisches Wirtshaus eben, von denen es auch in Berlin noch immer einige gibt. Nur: Oft sei der Anspruch an die Produktqualität nicht mehr zeitgemäß, sagt Ursus. Auf der anderen Seite stehen Orte mit »top Produkten, die meist eher schick sind«.

Ort für die Nachbarschaft

Im »Trio« wollen sie beides vereinen: Zugänglichkeit und Produktqualität. Wie das gelingt? Durch einen hohen Durchlauf. Durch schnörkellose Teller (angerichtet auf schlichten weißen Tellern, aber dennoch so schön, dass man sofort ein Bild machen will). Und durch geschickt genutzte Synergien. Mit dem Schwesterlokal teilt man sich Lieferanten und Produkte. Das Fleisch für die Königsberger Klopse etwa stammt von Brandenburger Bruderkälbern aus Demeter-Aufzucht. Feinere Stücke gehen ins »Otto«, Hack und Innereien ins »Trio«.

Ein Ort für die Nachbarschaft soll das Lokal sein. Ursus schaut durch das hohe Glasfenster. Er ist in der Nähe aufgewachsen, »ein paar Hundert Meter die Straße runter«. Zu diesem Konzept gehört auch, dass die Plätze am langen Tresen nicht reserviert werden. »Diese Spontaneität macht es leichter, ein nachbarschaftlicher Ort zu sein.«

Später am Abend, wenn das Lokal voll ist, zeigt sich, wie das in der Praxis aussieht. Leute werden mit Handschlag begrüßt, Barhocker zusammengerückt. »Die Art, wie man behandelt wird, diese Herzlichkeit, das verbinde ich ganz stark mit der Wirtshauskultur«, sagt Mitinhaberin Eva Alken. Wirtshaus sei ein Gefühl: Wie fühlt sich der Gast? Aber auch: Wie fühlt sich das Personal, der Wirt? Genau diese Wirten, die ein entscheidender Erfolgsfaktor für ein gutes Wirtshaus sind, die gibt es immer seltener.

© Robert Rieger

Die jüngere Generation hat andere Pläne, als das nicht immer nur gut bestellte Haus der Eltern fortzuführen. Die Gastronomie ist ein Knochenjob, mit den heutigen Ansprüchen an Work-Life-Balance oft nur schlecht vereinbar. Vor allem der ländliche Raum ist vom Wirtshaussterben betroffen.

Richard Rauch will in dieses Klagelied nicht einstimmen. »Wer ein klares Konzept hat und gute, ehrliche Qualität anbietet, wird sich auch in Zukunft durchsetzen«, ist der österreichische Koch überzeugt. Gemeinsam mit seiner Schwester leitet Rauch den »Steira Wirt« im steirischen Trautmannsdorf. Seit mehr als 120 Jahren wirkt die Familie in dem 900-Seelen-Dorf, 2003 übernahm Rauch die Rolle des Küchenchefs. Mittags kocht er traditionelle Wirtshausgerichte – abends ein mehrgängiges Gourmetmenü.

Für den 38-Jährigen kein Widerspruch: Die Gourmetküche lockt Gäste, die tags drauf Appetit auf knusprig gebackenes Kalbsbries haben. Und manch ein Wirtshausgast bekommt Lust auf das Abendmenü, wenn er Rauchs Interpretation der klassischen Gerichte probiert hat. Arbeitskleidung und Gedeck unterscheiden sich je nach Tageszeit, das Küchenteam und der Anspruch aber sind die gleichen. Das Wirtshaus am Mittag laufe nicht nur nebenbei, betont der Koch. Gulasch, Rindsuppe, Schmorbraten – »das ist die Basis der österreichischen Küche«. Und für ihn als Koch »fast schwieriger als das Entwerfen eines modernen, fein komponierten Gerichts«.

Wiederbelebung

Die Erinnerung sitzt immer mit am Tisch. Herzensküche sagt Richard Rauch dazu. Ein wenig damit spielen aber tut er dennoch: Dann gibt es Gulasch vom Stör oder Eiernockerl mit confiertem Dotter, brauner Butter und Spinat. »Ein fantastisches vegetarisches Wirtshausgericht«, schwärmt er. Überhaupt sei die österreichische Wirtshausküche reich an vegetarischen Gerichten. Und damit gut aufgestellt für derzeitige Essgewohnheiten. Für die Zukunft überhaupt.

Was aber wenn die zahlungskräftige oder -willige Kundschaft trotz aller Bemühungen ausbliebt? Wenn das Wirtshaus abseits der Touristenroute liegt und es keine kulinarischen Leuchtturmprojekte gibt? Auch mit dieser Frage befasst sich das »Wirtshauslabor« im Salzkammergut. Parallel zum Projekt der Tourismusklasse sollen gemeinsam mit dem künstlerisch arbeitende Kochkollektiv »Healthy Boy Band« Pop-up-Events in der gesamten Region stattfinden. Wirtshauskultur reloaded, ein Impuls zur »Wiederbelebung der verschwindenden Wirtshauskultur am Land«. Das Lokal in Bad Ischl ist vorerst auf ein Jahr angelegt. Christoph Held aber wolle alles tun, damit es auch danach weitergeht. »Ich will nicht größenwahnsinnig sein, aber ich glaube wir sind ziemlich gut aufgestellt.«

Adressen

Genusslabor
Im historischen Bahnhof präsentiert die Klasse der Bad Ischler Tourismusschule das Wirtshaus der Zukunft. Auf der Speisekarte stehen modernisierte Klassiker – von veganen Pastagerichten bis saftigem Braten. Auch für die Einrichtung gilt: Junge Ideen treffen auf traditionelle Gemütlichkeit.

Bahnhofstraße 8, 4820 Bad Ischl
(nur Mail: office-wirtshauslabor@ts-badischl.at), instagram.com/dasgenusslabor

Rosi
Bayerische Wirtshauskultur im Herzen von Zürich. Markus Stöckle hat keine Angst, mit Traditionen zu spielen. Er serviert, was es bei der Mama im Allgäu und beim Leibkoch des bayerischen Königs gab. Aus besten Zutaten und mit viel Humor.

Sihlfeldstraße 89, 8004 Zürich
T: +41 44 2916825, rosi.restaurant

Trio
Von Königsberger Klopsen bis Wiener Beuschel – in diesem gemütlichen Nachbarschaftslokal gibt es all jenes, was Koch Vadim Otto Ursus und sein Team selbst gerne essen. Bodenständige Küche, fein abgeschmeckt. Ein Großteil der Zutaten stammt aus dem Berliner Umland.

Linienstr. 13, 10178 Berlin
T: +49 30 33901310, trioberlin.webflow.io

Zum Reznicek
Das alteingesessene Wiener Beisl besticht dank behutsamer Renovierung in neuem Glanz. Serviert wird zeitgemäße Wirtshausküche – produktorientiert und saisonal. Dazu gibt’s feinen Käse und eine umfassende Weinauswahl.

Reznicekgasse 10, 1090 Wien
T: +43 1310 4407, reznicek.co.at

Restaurant & Geniesserhotel Villa Rosa, Steira Wirt
Im steirischen Familienbetrieb verkocht Richard Rauch kulinarische Kindheitserinnerungen zu großem Essvergnügen. Radikal regional, das Schnitzel etwa stammt vom hauseigenem Freilandschwein. Auf Wunsch als 3- bis 5-Gang-Menü, auch mit Weinbegleitung. Abends gibt es preisgekrönte Haubenküche.

Trautmannsdorf 6, 8343 Bad Gleichenberg
T: +43 3159 4106, geschwister-rauch.at

Zum Goldenen Löwen
Kunst trifft Kulinarik trifft Wirtshaus-Flair. Im historischen Hof-Ensemble aus dem 16. Jahrhundert kreiert das Künstler-Paar Luber-Böhm Vernissagen zum Aufessen. Immer überraschend, immer Gesellig – wie es sich für ein Wirtshaus gehört. Termine mehrmals jährlich.

Alte Regensburger Str. 18, 93183 Kallmünz
T: + 49 9473 380, zum-goldenenloewen.de


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Erschienen in
Falstaff Nr. 01/2024

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Verena Carola Mayer
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